Eine Würdigung des US-Trompeters und Komponisten, der 60 Jahre alt wird - und für drei Konzerte nach Wien kommt.
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Der heute einflussreichste Jazztrompeter, Komponist und Bandleader Amerikas entstammt einer Musikerfamilie aus New Orleans, wo diese Musik vor rund 120 Jahren entstanden ist. Im amerikanischen Jazz gibt es mehrere solcher Musikerdynastien, man denke nur an die Dorsey-Brüder (Jimmy spielte Klarinette, Tommy Posaune) oder an die Heath-Brüder (Albert war Schlagzeuger, Jimmy Saxophonist und Percy Bassist).
Der Marsalis-Clan hat bisher fünf Jazzmusiker hervorgebracht: Der im Vorjahr verstorbene Ellis war Pianist und Musikpädagoge. Vier seiner Söhne sind heute anerkannte Instrumentalisten: Branford ist Saxophonist, Delfeayo Posaunist, Jason Schlagzeuger und Wynton als Primus inter Pares Trompeter.
Als Wynton Marsalis am 18. Oktober 1961 geboren wurde, war sein späteres Idol Louis Armstrong noch mit seinen All Stars aktiv. Auf der Bühne hat der junge Wynton "Satchmo" aber nicht mehr erlebt. Als Armstrong 1971 verstarb, war Marsalis gerade zehn Jahre alt, damals gehörte er jedoch schon der Band der Fairview Baptist Church unter Leitung des berühmten Banjospielers Danny Barker in New Orleans an. Und als 14-jähriger Mittelschüler konzertierte der talentierte Jung-Trompeter bereits mit diversen lokalen Ensembles, darunter die New Orleans Philharmonic.
Begabter Autodidakt
Als Wynton 17 Jahre alt war, wurde er als jüngster Nachwuchsmusiker in das Tanglewood Berkshire Musik Center aufgenommen. Der begabte Autodidakt, mit einem gesunden Ehrgeiz ausgestattet, übersiedelte 1979 nach New York, um an der renommierten Juilliard School of Music ein Stu- dium zu beginnen. Nebenbei trat er in Jazzclubs auf, kam mit Stars der Szene in Kontakt und erregte mit seinem kraftvollen Trompetenton die Aufmerksamkeit von Columbia Records. Dieses Label bot ihm seinen ersten Plattenvertrag an.
1980 suchte der berühmte Schlagzeuger Art Blakey einen neuen Trompeter für seine Jazz Messengers. Diese Hardbop-Formation war eine Talenteschmiede, die große Solisten wie Wayne Shorter, Freddie Hubbard oder Lee Morgan hervorbrachte. Jetzt fiel Wynton Marsalis bereits Jazzstars wie der Sängerin Sarah Vaughan, dem Trompeter Dizzy Gillespie, dem Saxophonisten Sonny Rollins, dem Pianisten Herbie Hancock oder dem Bassisten Ron Carter auf. Immer wieder holten sie sich den jungen Trompeter für Live-Gigs oder Plattenaufnahmen.
Seine erste eigene Band formierte Wynton Marsalis 1981, also vor genau 40 Jahren. Die 1980er Jahre waren im amerikanischen Jazz von den "Jungen Löwen" geprägt, zu denen neben Marsalis auch der Trompeter Roy Hargrove, der Saxophonist James Carter und der Bassist Christian McBride gehörten. War in früheren Jahrzehnten die Entwicklung des Jazz durch aufeinanderfolgende Stile (New Orleans, Chicago, Swing, Bebop, Cool Jazz, Hardbop, Free Jazz oder Fusion) bestimmt, so ignorierten die Protagonisten dieser Musik jetzt alle Stilgrenzen. Verschiedene Strömungen und Stilrichtungen existierten nebeneinander. Die Jazzszene der 1980er Jahre bot eine große Vielfalt - nicht nur zeitgenössischer Jazz war "in", junge Musiker pflegten auch traditionelle Spielarten.
Im amerikanischen Jazz dieser Zeit mit seiner bewussten Pflege der Tradition herrschte ein gewisser Konservativismus. Man betonte das Erbe des Jazz bis zum Aufkommen des Free Jazz. Die Klarheit der musikalischen Linien wurde hervorgehoben, die Phrasierung war wichtiger als die Tonbildung.
"Highschool-Trompeter"
Wynton Marsalis war von diesem Zeitgeist geprägt, was ihn in das Kreuzfeuer der Kritik mancher Avantgardisten und sogar des großen Trompeters Miles Davis brachte. Was warf man ihm nicht alles vor: Er sei ein reaktionärer Gralshüter der Jazz-Tradition, ein seelenloser Techniker an der Trompete, gar ein rassistischer Neotraditionalist.
In der Tat stand Marsalis unter dem Einfluss des konservativen Jazztheoretikers und Publizisten Stanley Crouch, der im Vorjahr verstarb. Auch das öffentliche Auftreten von Marsalis, stets elegant und mehrsprachig wortgewandt in allen Medien national wie international, war offenbar für manche Musikerkollegen wie den introvertierten Pianisten Keith Jarrett ("Er klingt wie eine talentierter Highschool-Trompeter") und mehr noch für einige junge Jazzkritiker ein Ärgernis.
Die überwältigende Mehrheit der Fachwelt stellte freilich schon damals Marsalis’ Virtuosität als Trompeter nicht in Frage. Der deutsche Jazzpublizist Joachim Ernst Berendt erkannte das große Talent dieses Musikers aus New Orleans bereits frühzeitig: "Seit Dizzy Gillespie ist die Trompete im Jazz nicht mehr mit einer solch luziden instrumentaltechnischen Meisterschaft geblasen worden wie von Wynton Marsalis." Der angesehene Trompeterkollege Randy Brecker sagte, im Spiel von Marsalis werde die gesamte Geschichte des Jazz aus heutiger Sicht interpretiert.
Und so beschreibt Wynton Marsalis selbst sein Verhältnis zur Tradition: "Bevor man versteht, was die Erweiterung einer Sache ist, muss man verstehen, was diese Sache eigentlich ist. Jeder Jazzmusiker benützt die Tradition, jeder auf seine Weise. Man nimmt andere Formen, organisiert die Stimmen anders, setzt andere Harmonien, verwendet andere Rhythmen. Beeinflusst haben mich alle: Louis Armstrong, Miles Davis, John Coltrane, Charlie Parker, Duke Ellington. Ich laufe nicht vor diesen Einflüssen davon, ich habe keine Angst davor, denn ich weiß, ich habe meine eigene Stimme."
Wynton Marsalis, der mittlerweile über eine profunde musikalische Ausbildung verfügte, gepaart mit einer grandiosen technischen Virtuosität, hat die Trompetenkonzerte von Joseph Haydn, Johann Nepomuk Hummel und Leopold Mozart neben vielen anderen klassischen Werken eingespielt. Mehr als zehn Klassik-Alben nahm er auf, eines mit der Sängerin Edita Gruberova. Marsalis gab Konzerte mit berühmten Orchestern wie New York Philharmonic, Los Angeles Philharmonic und dem Cleveland Orchestra bis hin zur London Royal Philharmonic.
Dabei standen große Dirigenten wie Leppard, Previn, Dutoit, Maazel, Masur, Slatkin oder Tilson-Thomas am Pult. Ein Highlight war das Album "Baroque Duets" mit der Sängerin Kathleen Battle. Der vielleicht berühmteste Klassik-Trompeter Maurice André urteilt: "Wynton Marsalis ist möglicherweise der größte Trompeter aller Zeiten." Marsalis selbst sagt übrigens, neben vielen großen Jazzmusikern hätten ihn auch Igor Strawinsky und Ludwig van Beethoven beeinflusst.
Mehr als 100 Alben
Marsalis hat nämlich nicht nur Jazzmusik komponiert, sondern auch symphonische Werke. Seine "Swing Symphony" wurde 2010 von den Berliner Philharmonikern und dem Jazz at Lincoln Center Orchestra unter Leitung von Simon Rattle uraufgeführt. Sein "Violin Concerto" kam 2015 mit dem London Symphony Orchestra unter Leitung von James Gaffigan mit der Violin-Solistin Nicola Benedetti zur Uraufführung.
Insgesamt hat Marsalis bisher mehr als hundert Alben herausgebracht, von denen mehr als sieben Millionen Exemplare weltweit verkauft wurden. Drei Platten erlangten Goldstatus. Wynton Marsalis bekam neun Grammys für seine Jazz- und Klassikeinspielungen.
Ende der 1980er Jahre begann das New Yorker Lincoln Center sein Programmangebot durch die Veranstaltung von Jazzkonzerten zu erweitern. Diese Initiative fand so großen Anklang beim Publikum, dass 1991 die Abteilung Jazz at Lincoln Center gegründet wurde. Bereits ein Jahr später wurde das Jazz at Lincoln Center Orchestra ins Leben gerufen, das heuer sein 30-jähriges Jubiläum begeht.
Eloquent & elegant
Wynton Marsalis ist der künstlerische Leiter sowohl von Jazz at Lincoln Center als auch des Orchesters, das einen ganzjährigen Konzertzyklus im JALC-Komplex mit seinen drei Veranstaltungssälen mit Blick auf den Central Park bestreitet. Außerdem unternimmt das mit glänzenden Solisten besetzte Orchester immer wieder Tourneen in alle Erdteile. Hierzulande gastierte es wiederholt beim Salzburger Jazz-Herbst, dem Jazzfest Wien und im Wiener Konzerthaus.
Wynton Marsalis ist ein Glücksfall für den in seiner Geschichte oft totgesagten Jazz, weil er so viele Begabungen in seiner Person vereinigt: Er ist ein herausragender Trompetenvirtuose, ein gefeierter Bandleader und Komponist, ein an allen US-Universitäten gefragter Musikpädagoge, ein Talentscout in der aktuellen Jazzszene, ein erfolgreicher künstlerischer Leiter der größten Jazzorganisation der USA, ein phänomenaler Beschaffer von Subventions- und Sponsormitteln für den Jazz, ein eloquenter und eleganter Botschafter des Jazz in allen Medien weltweit - und vor allem: Er hat dem Jazz, dem wichtigsten Beitrag Amerikas zum Weltkulturerbe, endlich in seinem Ursprungsland den ihm gebührenden gesellschaftlichen Stellenwert verschafft.
Wynton bestreitet Fernsehshows, Radioprogramme und hat bisher sechs Bücher veröffentlicht. Mehr als 30 amerikanische Universitäten, darunter Columbia, Harvard, Princeton und Yale, haben ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Schon 1995 reihte ihn das Magazin "Time" unter die 25 einflussreichsten Amerikaner, und 2005 bekam er von der US-Regierung die National Medal of Arts, die höchste künstlerische Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Präsident Barack Obama zeichnete ihn 2015 mit der National Humanities Medal aus. Bereits 1997 hatte Wynton Marsalis den Pulitzer-Preis für sein Oratorium "Blood on the Fields" erhalten - und er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion.
Angesichts der Infragestellung demokratischer Standards durch den früheren US-Präsidenten Donald Trump bezog Marsalis auch politisch eine klare Position. Seine achtteilige "Democracy Suite", heuer auf Platte erschienen, soll daran erinnern, dass die Demokratie immer wieder verteidigt bzw. neu erkämpft werden muss. Einen Titel dieser Orchestersuite ("Sloganize, Patronize, Realize, Revolutionize") hat er der Black-Lives-Matter-Bewegung gewidmet.
Darin schreit ein Saxophon empört seinen Zorn über die unhaltbaren Zustände für die People of Color hinaus, während das Jazz at Lincoln Center Orchestra souverän im Hintergrund agiert. Wynton Marsalis: "Die Demokratie ist wie ein lebendiger Organismus, der jedem individuelle Chancen zur Entwicklung geben sollte. Genauso ist es im Jazz." Wie aktuell dieses Thema ist, zeigen die Bestrebungen, das Wahlrecht für die Afroamerikaner im Hinblick auf die Midterm Elections 2022 in einigen republikanisch regierten Bundesstaaten einzuschränken.
"Musik hat die Kraft, das Verständnis und Bewusstsein der Menschen zu verändern: Nicht wie eine militärische oder politische Handlung, aber sie kann Menschen zum Handeln inspirieren", meint Wynton Marsalis - und zur Situation in den USA: "Musiker haben immer schon sozialkritische Dinge gesagt. Jazz ist als Ausdrucksform dafür perfekt, weil afroamerikanische Menschen schon immer unter der Last leiden, im Land der Freiheit frei zu sein, aber von einer Mehrheit genau daran gehindert werden: Frei zu sein."
Konzerthinweise:
Wynton Marsalis tritt im Oktober dreimal im Wiener Konzerthaus (Großer Saal) auf:
16. Oktober, 19:30 Uhr: "Happy Birthday Concert: Wynton 60"
Jazz at Lincoln Center Orchestra: Wynton Marsalis, Trompete und Leitung; Musik von Wynton Marsalis und Komponisten, die ihn beeinflusst haben.
17. Oktober, 14:00 Uhr: "Jazz For Young People: What Is Jazz?"
Jazz at Lincoln Center Orchestra; Wynton Marsalis, Trompete und Leitung; Special Guest: Thomas Gansch, Trompete und Flügelhorn, Moderation.
17. Oktober, 19:30 Uhr: "Coltrane: A Love Supreme"
Jazz at Lincoln Center Orches-tra; Wynton Marsalis, Trompete und Leitung. John Coltrane: "A Love Supreme", Suite in vier Teilen; Sonny Rollins: "The Freedom Suite".
Johannes Kunz, geboren 1947, war von 1973 bis 1980 Pressesprecher von Bundeskanzler Bruno Kreisky und von 1986 bis 1994 ORF-Informationsintendant. Autor mehrerer Bücher zu politischen Themen und Jazz, darunter Biografien über Frank Sinatra und Ella Fitzgerald.