Ideologien und politischen Systeme versuchen ihre Narrative durchzusetzen. Die chinesische Führung hat sich ein Eigentor geschossen.
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Geplant war wohl alles anders: auf der einen Seite westliche Demokratien, in denen inmitten wirtschaftlicher Krisen über Maßnahmen wie Lockdowns oder Impfpflicht in Endlosschleife und mit zunehmender Radikalisierung gestritten wird; auf der anderen Seite eine chinesische Führung, die gelassen und souverän Maßnahmen verordnet und problemlos durchsetzt. Die Wirtschaft bleibt auf Wachstumskurs, und gesellschaftliches Chaos und Verwerfungen bleiben aus. Das Rezept sollte offensichtlich einen erwünschten propagandistischen Nebeneffekt haben, nämlich ein Narrativ befördern: Wir, die starke chinesische Führung, sind den chaotischen westlichen Demokratien überlegen.
Das Scheitern der Null-Covid-Politik
Im globalen Wettbewerb der schönsten, nämlich vernünftigsten und effizientesten Staatsform hat sich die chinesische Regierung nun ein Eigentor geschossen. Nach ungewöhnlichen Protesten in vielen Städten hat sie ihre Null-Covid-Politik mit einem Schlag aufgegeben und lässt nun das Virus "durchrauschen". "In China stehen wir vor einer humanitären Krise mit hunderttausenden Toten in den nächsten Monaten", vermutet der Mediziner David Owens von der Universität Hongkong. Befürchtet werden bis zu einer Million Covid-19-Tote in den nächsten Monaten und ein massiver Wirtschaftseinbruch mit globalen Auswirkungen.
Im Corona-Management unter Staatschef Xi Jinping ist einiges schiefgegangen. Lockdowns wurden verhängt, als diese wegen der Omikron-Variante nicht mehr sinnvoll waren. Bis heute verweigert die Führung in Peking effizientere nicht-chinesische Impfstoffe. Eine Durchimpfung vor allem der älteren Bevölkerung wurde verabsäumt. In China gibt es mehr als 260 Millionen über 60-Jährige. Nur 40 Prozent der über 80-Jährigen haben eine dritte Impfung erhalten. Das Gesundheitssystem ist auf eine Öffnung nach drei Jahren Null-Covid-Politik ungenügend vorbereitet. So fehlen offensichtlich Fiebermittel und Blutkonserven.
Über die Motive und Gründe dieser Fehlentscheidungen kann nur spekuliert werden. War es Xis Kontrollwahn, also eher ein psychologisches Problem? Ist es vor allem der Nationalstolz gewesen, was dazu passt, dass die Führung in Peking immer mehr auf die nationale Karte setzt (siehe Taiwan)? Waren die Fehlentscheidungen in erster Linie das Ergebnis einer Selbsttäuschung, wie sie so häufig in diktatorischen oder totalitären Staaten zu beobachten ist?
Womöglich wurden Xi und seine Führungskräfte vor allem Opfer der eigenen Propaganda und des eigenen Narrativs, das da lautet: "Wir machen alles richtig, unsere Regierungsform ist die bessere, im Gegensatz zum Westen, und das zeigt sich gerade in Krisenzeiten."
Die unterschätzten Demokratien
Praktisch für eine Diktatur auf dem Weg in einen totalitären Überwachungsstaat: Über das eigentliche Ausmaß des nun erwarteten Ausnahmezustandes in Krankenhäusern und sonstwo können nur Mutmaßungen angestellt werden, denn die Gesundheitskommission hat eine empirische Datenerhebung offiziell eingestellt. Die Lücke füllt die Staatspropaganda, die nun damit beschäftigt ist, das Virus zu bagatellisieren.
Fast schon absurd mutet es an, wenn in Österreich laut Umfrage wieder einmal der Wunsch nach einem "starkem Mann" größer geworden ist, der auch ohne Parlament Entscheidungen durchsetzen kann. In Demokratien, so lautet offenbar die Vorstellung, "geht nichts weiter", da "herrscht Stillstand". Doch genau dieser angebliche oder scheinbare Stillstand kann eine Stärke von Demokratien sein: Es werden wenigstens katastrophale Fehler vermieden.
In einem autoritären oder totalitären Staat hingegen gibt es keine bis nur wenige von der Regierung unabhängige Kontrollmechanismen, weil Medien, Institutionen und Bevölkerung "gleichgeschaltet" sind. Das einschlägige Beispiel bezüglich Chinas ist der "Große Sprung vorwärts" unter Mao Tsetung mit geschätzten 40 Millionen Hungertoten (etwa 1959 bis 1962).
Lieber tausende Verschwörungsideologen auf Twitter als ein "starker Mann" in Peking. Lieber tausende Corona-Schwurbler, die mit den Rufen "Corona-Diktatur! Faschismus! Widerstand!" völlig ungestört den Wiener Ring entlang marschieren, als ein freundlich lächelnder Xi Jinping.
Vieles läuft in den westlichen, demokratischen Rechtsstaaten falsch. Es gibt Korruption, Inkompetenz, rechten und linken Populismus, Fehlentscheidungen wie die zu große wirtschaftliche Abhängigkeit von Ländern wie China oder Russland in zentralen strategischen Bereichen. Aber nicht alles geht bei uns in die falsche Richtung. Oder ist das auch ein eurozentristischer "westlicher Triumphalismus", der sich nicht gehört?