)
Warschau - Vom jüdischen Ghetto in Warschau steht nur noch eine kleine Mauer, versteckt zwischen neuen Wohnhäusern in einem Hinterhof. Dort, wo einst prächtige Synagogen standen, ragen heute Bürotürme in den Himmel der polnischen Hauptstadt. In den Straßen erinnert nichts mehr daran, dass Warschau einst die Hauptstadt des europäischen Judentums war. 3,5 Millionen Juden - ein Zehntel der damaligen Bevölkerung - lebten vor dem Einmarsch der Deutschen 1939 in Polen. Heute sind es höchstens noch 5.000.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Doch es regt sich wieder jüdisches Leben in Warschau, wenn auch zaghaft. "Vor einigen Jahren lag der Altersdurchschnitt in der einzigen verbliebenen Synagoge der Hauptstadt bei über 80 Jahren, heute ist er bei etwa 25", sagt Tomasz Krakowski, ein 30 Jahre alter orthodoxer Jude. Von den 280.000 polnischen Juden, die laut Historikern den Holocaust überlebten, wanderten die meisten nach Israel oder in die USA aus. Auch die nach dem Krieg in Polen regierenden Kommunisten trieben viele Juden ins Ausland.
"Die, die geblieben sind, wollten die Tradition nicht weitergeben, die hatten Angst", sagt Karina Sokolowska, die Vize-Präsidentin der jüdischen Gemeinde Warschaus. Erst nach dem Fall des Kommunismus 1989 habe ein Wandel eingesetzt, sagt der Präsident Piotr Kadlcik. "Aber die Anfänge waren schwierig. Uns fehlten die Leute, um Gottesdienst zu feiern, und koscheres Essen musste vollständig importiert werden." An Pesach, dem jüdischen Osterfest, hätten sich dieses Jahr 300 Juden in der Warschauer Synagoge versammelt, und auch koschere Lebensmittel würden wieder in Polen produziert. Die zwei jüdischen Schulen in der Nähe der Synagoge besuchen mehrere hundert Kinder - aufgrund der guten Ausbildung auch zahlreiche nichtjüdische.
Am Dienstag und Mittwoch erinnert sich Polen an die Juden, die einst in Warschau lebten und an das entsetzliche Leid, das ihnen die Nazis zufügten. Der israelische Präsident Moshe Katzav wird am Mittwoch in Warschau zu der offiziellen Gedenkfeier anlässlich des 60. Jahrestages des Aufstandes im Warschauer Ghetto erwartet.
Auf dem Gelände des früheren jüdischen Viertels pferchten die Nazis ab 1940 zeitweise bis zu einer halben Million Juden zusammen. Viele starben an Hunger und Krankheiten aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse im Ghetto; die meisten aber wurden in Vernichtungslager gebracht und dort getötet. Am 19. April 1943 begannen mehrere hundert Juden im Ghetto, sich gegen ihre nationalsozialistischen Unterdrücker mit Gewalt zur Wehr zu setzen. Die Nazis waren von dem Aufstand überrascht, die Kämpfe dauerten mehrere Wochen. Die deutschen Truppen setzten dabei auch Giftgas ein. Binnen eines Monats wurden fast alle Menschen im Ghetto getötet oder in Vernichtungslager abtransportiert. Das Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht. Einer der Anführer des Aufstands, der inzwischen 80-jährige Marek Edelman, lebt noch heute in Polen.
Das jüdische Leben in Polen werde nie wieder so sein wie vor dem Krieg, sagt der orthodoxe Jude Krakowski. Aber immerhin halte in der jüdischen Gemeinde Warschau allmählich wieder so etwas wie Normalität Einzug.