Die anatolische Stadt Diyarbakir besinnt sich auf ihre Geschichte als nördlichste Stadt Mesopotamiens und definiert ihr Selbstverständnis als multikulturelle Metropole mit kurdischer Identität.
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Auf der Terrasse des Oskar VIP Cafés am südlichen Rand von Diyarbakir sieht man den Tigris in einem grünen Dickicht verschwinden und sich verästeln, bevor er weiter unten im Tal wieder zu einem richtigen Fluss anwächst und weiter Richtung Bagdad fließt. Das Tal, das unter den trockenen Hügeln liegt, ist sattgrün und beherbergt die Hevsel-Gärten, die Jahrtausende lang genug Obst und Gemüse für die Bewohner Diyarbakirs geliefert haben. An einem Ort wie diesem, bekommt man eine Ahnung davon, was das besondere an diesem Ort ist und weshalb sich genau hier schon vor über 12.000 Jahren Menschen angesiedelt haben.
Das Department für Kultur und Tourismus in Diyarbakir versucht bei seinen Gästen diesen Eindruck zu unterstreichen und eine neue Identität für die Stadt zu finden, die nicht nur repräsentativ für ihre Bewohner, sondern auch nützlich für die touristischen Anliegen der Stadt sein soll. Im 2011 von der Stadtgemeinde veröffentlichten Reiseführer präsentiert sich die Stadt als Teil eines Jahrtausende alten Siedlungsraums, der voller kultureller Schätze ist. Als ein kosmopolitisches Zentrum, das die Spuren von 33 verschiedenen Traditionen trägt, in dem seit jeher unzählige Sprachen gesprochen wurden und viele verschiedene Traditionen zu Hause waren.
Es ist ein Zugang zu einer Identität abseits des Politischen, die dieses neue Bild der Stadt prägen soll. Diyarbakir will mehr sein, als die rebellische "Hauptstadt der Kurden", als die sie immer wieder beschrieben wird. Hier präsentiert sich eine Stadt, die vor allem durch ihre Offenheit und ihr blühendes kulturelles Leben bekannt ist.
Kulturprojekte
Eine Frau, die ihren Beitrag zu dieser Blüte in Diyarbakir leistet ist Övgü Gökçe, Projektkoordinatorin in der türkeiweit aktiven Organisation "Anadolu Kültür". Für sie ist die Arbeit hier stark beeinflusst vom Spannungsfeld zwischen einem immer stärker werdenden Neoliberalismus einerseits und dem kurdischen Nationalismus andererseits. Gökçe arbeitet seit zwei Jahren für das "Diyarbakir Sanat Merkezi". Dieses Projektbüro hat bereits 2002 seine Arbeit hier aufgenommen und den Anspruch, internationale Kunst zu präsentieren, lokalen KünstlerInnen ein Podium zu bieten und gemeinsam mit NGOs in der Stadt Kooperationen zu realisieren.
Die Bandbreite der Projekte erstreckt sich von der Ausrichtung der "Tage der vergleichenden Literatur", Filmabenden bis hin zum Versuch, gemeinsam mit Frauenorganisationen aus unterschiedlichen Städten Theaterworkshops auf die Beine zu stellen und dann ein gemeinsames Stück zu realisieren.
Den Versuch der Stadtverwaltung, eine neue Identität in Hinblick auf die kulturelle Vielfalt zu verankern, sieht Övgü Gökçe als Chance: "Die bestehende Infrastruktur ist gut und es gibt die Möglichkeit viele Leute anzusprechen, es ist eine Chance, die man ergreifen sollte."
Es ist eine große Aufgabe für eine Stadt, die Jahrzehnte lang Zufluchtsstätte für kurdische Flüchtlinge war, und in der nach wie vor die kreisenden Militärhubschrauber daran erinnern, dass Diyarbakir keine ganz normale Stadt in der Türkei ist. Während des Kriegs zwischen dem türkischen Militär und den Kurden im Südosten des Landes kam es zur systematischen Zerstörung von über 3000 Dörfern im Umland von Diyarbakir. Während der in Wellen auf- und abflauenden Auseinandersetzungen wuchs die Bevölkerung von 150.000 Menschen im Jahr 1970 auf über eine Million 2010.
Kurdische Lebensweise
In Diyarbakir entwickelten sich im Laufe der Jahre viele Kulturvereine, die sich zur Aufgabe machten, die kurdische Lebensweise, Musik und Erzählkunst zu erhalten, Bücher in Kurdisch zu schreiben und die verschiedenen kurdischen Sprachen zu unterrichten. Sie machen heute einen wichtigen Teil des kulturellen Lebens in der Stadt aus und versuchen - je nach politischer Lage - ihre kulturelle Arbeit und politischen Forderungen nach außen zu tragen und weiterzugeben. Gleichzeitig werden manche von ihnen aber auch als unattraktiv empfunden, weil sowohl die folkloristischen als auch die politischen Inhalte, die dabei im Mittelpunkt stehen, für eine junge Generation von Kunst- und Kulturschaffenden nicht mehr zeitgemäß ist.
Das jüngste Projekt, das den multikulturellen Charakter der Stadt hervorheben soll, war die Restaurierung und Wiedereröffnung der armenischen Sourp-Giragos-Kirche, die im Oktober komplett abgeschlossen sein wird. "Durch Bürgermeister Osman Baydemir und die armenische Diaspora ist dieses Projekt möglich geworden", erzählt Armen Demirciyan. Zufrieden sitzt er im weitläufigen Garten der Kirche unter einer Laube, die Schutz vor der Mittagssonne bietet, die die Stadt auf über 40 Grad aufheizt. Der pensionierte Chauffeur ist freiwilliger Mitarbeiter jener Stiftung, die für die Kirche verantwortlich ist. "Die Familie meines Vaters wurde während der Massaker an den Armeniern 1915 getötet und er wurde schließlich von einer kurdischen Familie aufgenommen als Muslim erzogen. Mein Vater hat nie darüber gesprochen, erst mit 25 Jahren habe ich erfahren, dass ich Armenier bin, weil meine Stiefoma es mir erzählte."
Er ist froh, dass es diesen Ort gibt und will, dass er sichtbar ist - vor allem auch für TouristInnen. Denn die Kirche mit dem großen Garten und den Nebengebäuden wird nur zum Teil eine Stätte für die wenigen verbliebenen armenischen Familien sein. Viel mehr soll hier ein lebendiges Kulturzentrum entstehen, mit einem Café, Ausstellungsräumen und Verkaufsständen für KünstlerInnen, die in Diyarbakir leben und arbeiten. Als Generalprobe diente eine Feier im April, bei der ein Schweizer Ensemble eingeladen war, das mit klassischer Musik den neuen kulturellen Raum eröffnet hatte.
Neben der Stadtverwaltung als wichtigstem Akteur, was das kulturelle Leben in der Stadt betrifft, haben sich im Laufe der letzten Jahre mehrere unabhängige Organisationen etabliert, die mit kulturellen Projekten in der Stadt aktiv sind. Elif Engil Şimşek ist vor fünf Jahren aus Istanbul nach Diyarbakir gezogen und arbeitet seit einem Jahr für den "Ortadou Akademi Sinema Dernegi". Der Verein hat 16 Angestellte und betreibt Kinos in drei Städten im Südosten der Türkei.
Filmfestivals
Darüber hinaus organisiert er im Laufe jeden Jahres vier Filmfestivals mit unterschiedlichen Schwerpunkten. "Unser Ziel ist es, alternative, unabhängige Filmemacher aus der Region zu fördern, um eine kurdische Filmszene aufzubauen und gleichzeitig der fortschreitenden Industrialisierung des Kinos entgegenzuwirken. Wir versuchen bewusst Dinge anders zu machen und vergeben zum Beispiel bei unseren Festivals keine Geldpreise für fertige Produktionen, sondern vielmehr Stipendien für Drehbücher um deren spätere Produktion möglich zu machen."
Der Verein versucht dabei aber auch gezielt Arbeiten zu ermöglichen, die nicht explizit die kurdische Geschichte oder die kurdische Kultur zum Thema haben. Für Şimşek ist es wichtig, einen Freiraum für einen offenen Austausch zu schaffen, in dem etwa auch Kritik am Neoliberalismus, Frauenthemen oder ökologische Schwerpunkte Platz finden.
Für Ümit Sevinç, freischaffender Grafik-Designer und Künstler, ist die Art und Weise wie Kunst und kulturelles Engagement von den etablierten Institutionen in der Stadt verstanden und umgesetzt wird, zu sehr von oben herab und bietet zu wenig Spielraum für verschiedene Zugänge. In der Baustelle seines neuen Büros, das er mit seinen zwei Angestellten gerade renoviert, versucht er anschaulich zu machen, was er meint: "Schau, draußen in unserer Straße sind acht Dönerläden, die alle gleich aussehen und alle das gleiche Essen verkaufen. Genauso sieht es mit den Projekten aus, die in Diyarbakir seit Jahren gemacht werden." Seiner Meinung nach arbeiten die unterschiedlichen Institutionen und Vereine der Stadt nicht gut genug zusammen. Gleichzeitig stört ihn die politische Vereinnahmung der kulturellen Aktivitäten und nimmt als Beispiel die Feste zum kurdischen Neujahr: "Das Nemrut-Festival soll ein Kulturfestival sein, aber es ist ein Festival der politischen Parteien, die sich dort präsentieren, nicht eines der Künstler. Ich will dort Straßenkünstler sehen, Maler, Bildhauer, Fotografen, Filmemacher, die dort ihre Stimme haben dürfen. Aber das gibt es nicht."
Gegenkultur
Für Sevinc ist es an der Zeit, in der Stadt eine Gegenkultur zu etablieren, die direkt mit den Menschen in der Stadt, mit Randgruppen, Kindern und Jugendlichen arbeitet. Es sollen Räume entstehen, in denen Kunst möglich ist, die einen Bezug zu den Menschen in der Stadt hat - auch zu jenen, die nicht in das neue Bild Diyarbakirs passen.
Durch Zufall ist der in der Stadt Van geborene Grafik-Designer vor fünf Jahren in Diyarbakir gelandet und arbeitet in seinem Beruf, um damit jene Projekte zu finanzieren, die ihm eigentlich am Herzen liegen. Gemeinsam mit Freunden hat er etwa in der Altstadt ein leer stehendes, armenisches Bürgerhaus angemietet und damit begonnen es zu renovieren. Ziel ist es, ein kulturelles Zentrum aufzubauen, einen Freiraum, in dem es möglich ist, in aller Freiheit Kunst zu produzieren, und das gleichzeitig etwa für Kinder aus dem Viertel die Möglichkeit bieten soll, kreativ zu arbeiten. "Ich fühle mich dem Ort hier verpflichtet, ich möchte etwas zurückgeben.", sagt Sevinç. Auf die Frage, ob er glaubt mit Kunst etwas verändern zu können, ist er dennoch skeptisch: "Die Leute hier, die Kinder und Jugendlichen haben viel Krieg, Gewalt und Angst mitgemacht und das merkt man auch. Man muss die Kinder und Jugendlichen irgendwie kriegen und vielleicht geht das mit der Kunst - wer weiß?"
Manuel Schmaranzer ist Kultur- und Sozialanthropologe. Er ist in Gosau am Dachstein aufgewachsen und ist Obmann des Vereins "hausbank" mit Sitz in Wien.
Am 31. August 2013, um 20.00 Uhr werden im Arkadenhof des Wiener Rathauses die "Diyabakir Kulturtage" eröffnet. Den Auftakt bildet ein Konzert mit der kurdischen Sängerin Rojda & Band. (Über das weitere Programm wird die "Wiener Zeitung" demnächst berichten.)