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Zäher Kampf um Wählerstimmen in einem polarisierten Land

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Die Regierungspartei will ihre Macht stärken. | In den Kampagnen spiegeln sich die gesellschaftlichen Gräben wider. | Istanbul. Meryem setzt ein breites Lächeln auf. Es sind die Wahlen, die ihr auch sonst freundliches, rundes Gesicht noch mehr strahlen lassen. Schön werden sie werden, daran gebe es keinen Zweifel. Und wer gewinnen wird, ist auch klar: Recep Tayyip Erdogan mit seiner Partei AKP. | 'Warum sollte die Türkei Zugeständnisse machen?' | 'AKP sprach von Öffnung und ließ dann hunderte Menschen einsperren'


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Meryem ist voll des Lobes für den Mann, dessen Konterfei von den Plakaten ringsherum prangt. Mit ihrem farblich perfekt mit der leuchtend türkisen Bluse abgestimmten Kopftuch steht die junge Wahlkampf-Helferin an einem Tisch voller Broschüren in einer kleinen Halle am Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls. Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) hat den Raum für ihre Kampagne gemietet.

Am Sonntag finden in der Türkei Parlamentswahlen statt, und Premier Erdogans konservative Fraktion will einmal mehr gewinnen. Seit neun Jahren ist sie an der Macht, und sie möchte auch weiterhin allein die Regierung bilden. Beim letzten Votum im Jahr 2007 hat fast jeder zweite Türke für sie gestimmt.

Genau das bereitet wiederum Serkan Sorgen. Mit ein paar Kolleginnen sitzt der Lehrer im Aufenthaltsraum einer Sprachschule in Kadiköy, auf der anatolischen Seite Istanbuls. In diesem Stadtteil stellt die oppositionelle linksgerichtete CHP (Republikanische Volkspartei) den Bürgermeister. Dieser Partei werden wohl auch die jungen Menschen um den Tisch ihre Stimme geben. Der Grund ist allerdings nicht Begeisterung für die Partei, die einst von Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen wurde, mit der Zeit immer konservativer wurde und nun unter dem neuen Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu wieder mehr sozialdemokratische Züge annehmen möchte. Vielmehr sehen viele AKP-Kritiker keine andere Alternative zur Regierungspartei, deren Dominanz sie mit Unbehagen erfüllt.

Schutz oder Zensur?

Serkan ist bei vielen Protesten gegen die Regierung dabei gewesen. Damals, vor ein paar Jahren, als in verschiedenen Städten rund eine Million Menschen auf die Straße gingen. Und erst vor kurzem, als gegen die Pläne demonstriert wurde, das Internet automatisch mit bestimmten Filtern zu versehen - zum Schutz von Kindern vor Pornografie, wie es offiziell heißt, was von anderen aber als Zensur bezeichnet wird.

Die Türkei sei seit dem Amtsantritt der AKP mit ihren islamischen Wurzeln konservativer geworden, findet Serkan. Als Beispiel gibt er an, dass er auf den Straßen Istanbuls nun mehr schwarz verhüllte Frauen sehe als früher. Oder dass Alkohol nur mehr an Personen verkauft werden dürfe, die älter als 24 Jahre seien. Der Sprachlehrer macht die Regierungspartei auch für die gesellschaftliche Spaltung verantwortlich, die er spürt: AKP-Anhänger gegen den Rest der Türken. "Es ist eine Wir gegen euch-Stimmung", sagt Serkan. "Die AKP gibt zu verstehen: Entweder ihr seid für und mit uns - oder ihr habt Pech gehabt." Es ist ein wachsendes Befremden im eigenen Land, das aus Serkan spricht.

Wachsende Wirtschaft

Das steigende - nicht zuletzt ökonomische - Selbstbewusstsein der Türkei teilen nämlich nicht alle Einwohner. Gerne verweist Ankara auf die wirtschaftlichen Daten. Die ausländischen Investitionen nehmen wieder zu, das Bruttoinlandsprodukt stieg im Vorjahr um fast neun Prozent, die Inflation soll heuer auf rund sechs Prozent gedrückt werden. Die Banken haben die Finanzkrise der vergangenen Jahre besser als in anderen Ländern gemeistert. Die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn auch noch immer offiziell so gut wie jeder zehnte Mensch ohne Job ist und der Durchschnittslohn kaum 800 Euro übersteigt.

Doch sei der Wohlstand alles andere als gerecht verteilt, meint etwa die Opposition. "Gut, die Türkei mag wirtschaftlich betrachtet den 17. Platz weltweit einnehmen", räumt CHP-Vizevorsitzende Gülsün Bilgehan ein. "Doch leben 17 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze." Zwar gebe es im Land mittlerweile mehr Millionäre als etwa in Japan. Aber andererseits müsse fast jeder zweite Einwohner der Türkei finanzielle Unterstützung des Staates in Anspruch nehmen. Die soziale Kluft im Land werde größer, sagt Bilgehan.

Aber selbst mit Versprechen wie mehr Jobs für junge Leute oder eine Art Familienversicherung wird es die CHP schwer haben, gegen die AKP anzukommen. Dass diese auch diesmal stimmenstärkste Partei wird - daran äußert niemand Zweifel. Die Opposition ist geschwächt, jahrelang hatte sie der Regierungspartei kaum etwas Programmatisches entgegenzustellen.

Nach der letzten Wahl erhielt die CHP 99 Mandate im Parlament in Ankara, die rechtsnationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) stellte 71 Abgeordnete. Die prokurdische DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft) war mit 20 Mitgliedern vertreten. Die AKP aber bekam 341 Sitze von 550 Mandaten.

Auch in der kommenden Legislaturperiode werden wohl vier Parteien im Parlament ihren Platz finden. Zwar werben 15 Gruppierungen um die Stimmen der etwas mehr als 50 Millionen Wahlberechtigten. Doch an der extrem hohen Hürde von zehn Prozent Stimmenanteil für den Einzug ins Abgeordnetenhaus scheitern die meisten. Um das zu umgehen, tritt die DTP-Nachfolgepartei BDP mit unabhängigen Kandidaten an - für die diese Hürde nicht gilt. Erst nach dem Einzug ins Parlament will sie eine Fraktion bilden (siehe Artikel unten).

Ringen um Reformen

So stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wie viel die AKP gewinnt - und wie sehr sie darauf angewiesen sein wird, mit den anderen Parteien zusammenzuarbeiten. Davon wird auch abhängen, wie viel sie von den geplanten Reformen realisieren wird. Eine der am heftigsten diskutierten ist eine - auch von der EU geforderte - Verfassungsänderung.

Derzeit seien die Umstände dafür günstiger als zuvor, findet etwa Hugh Pope vom Türkei-Büro des Think-Tanks International Crisis Group. "Die Oppositionsparteien haben Gesprächsbereitschaft signalisiert. Doch ist offen, wie sehr die AKP auf Vorschläge anderer eingehen wird."

Das neue Gesetz und die Lösung des Kurdenkonflikts sieht Pope als die wichtigsten Probleme an, vor denen auch die künftige Regierung stehen wird. Darüber, dass die nach einem Militärputsch 1980 erarbeitete Verfassung demokratischen Standards gemäß geändert werden muss, sind sich breite Gesellschaftsschichten zwar einig. Doch um die Details gibt es seit Jahren ein zähes Ringen.

Vielfalt an Identitäten

Auch in dieser Debatte spiegeln sich die Gräben innerhalb der Gesellschaft in der Türkei wider. Kurden pochen auf die Berücksichtigung ihrer kulturellen und sozialen Rechte, türkische Nationalisten fürchten um die Einheit des Staates. Und auch innerhalb dieser Gruppen gibt es zahlreiche Meinungen.

"Die kulturelle Identität der türkischen Gesellschaft ist von unterschiedlichen Gruppen geprägt, und das wird sich nicht so schnell ändern", erklärt Koray Özdil von der Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien (Tesev) in Istanbul. Daher setzen auch die Parteien im Wahlkampf teilweise bewusst auf Polarisierung - um bestimmte Wählerschichten anzusprechen. Doch selbst nach der Wahl werde sich die türkische Politik nicht unbedingt dem Konsens verschreiben, sagt der Soziologe.

Keinen Zweifel lässt aber auch Koray Özdil daran, dass eine Lösung für das Kurdenproblem gefunden werden müsse. Ebenfalls werden wohl die Annäherung an die Europäische Union, Fragen nach der Meinungs- und Pressefreiheit sowie Reformen des Justizwesens wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken, sobald der Urnengang und die damit verbundenen Turbulenzen vorbei sind.

All das ist nämlich in dem Wahlkampfgetöse ziemlich untergegangen. Doch die Türkei, findet Özdil, ist dynamisch genug, um sich bald wieder diesen Themen zu widmen.