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Zähes Ringen um die Mehrheit

Von Piotr Dobrowolski

Europaarchiv

Stimmenzuwachs für Julia Timoschenkos Partei. | Premier Janukowitsch reklamiert Sieg für sich. | Kiew. Julia Timoschenko war die erste große Überraschung der ukrainischen Parlamentswahl. Mit einem Stimmenzuwachs von rund zehn Prozentpunkten katapultierte sich die Prinzessin der orangen Revolution ganz weit nach vorne. Für einen absoluten Sieg hat es dann aber doch nicht gereicht. Zwar lag am gestrigen Vormittag Timoschenko auf Platz eins, je mehr Stimmen aber ausgezählt waren, desto stärker schmolz ihr Vorsprung auf die russlandfreundliche Partei der Regionen von Premier Wiktor Janukowitsch.


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Am Nachmittag schließlich brachte der ukrainische Wahlkrimi die zweite große Überraschung: Auf einmal lag mit wenigen Zehntelprozent Janukowitsch vorne. Im Laufe des Nachmittags verstärkte sich der Trend. Gegen Abend hatte Janukowitsch bei einem Auszählungsgrad von 82 Prozent 32,8 Prozent der Stimmen hinter sich, Timoschenko 31,7. Die Präsidentenpartei Unsere Ukraine, deren De-Facto-Chef Präsident Wiktor Juschtschenko ist, wurde Dritte mit 14,8 Prozent. Im neuen Parlament werden außerdem die Kommunisten, der Block Litwin und möglicherweise auch die Sozialisten vertreten sein.

Wohl etwas verfrüht hatte Timoschenko gestern ihren Anspruch auf das Amt der Regierungschefin erhoben. "Ich glaube, wir können innerhalb von 24 bis 48 Stunden ab dem Vorliegen der Endergebnisse eine Koalition bilden", jubelte sie. Wenige Stunden später reklamierte Wiktor Janukowitsch den Sieg für sich: "Am Ende des Tages wird die Partei der Regionen als Sieger hervorgehen."

Offenes Rennen

Nun ist das Rennen vollkommen offen. Denn es scheint zwar nach wie vor möglich, dass die prowestlich-orangen Kräfte, also Timoschenko und Unsere Ukraine, eine knappe Sitzmehrheit im Parlament erringen können, doch viel wird davon abhängen, auf wessen Seite sich der Block des ehemaligen Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin schlägt, der mit vier Prozent der Stimmen nun den Königsmacher spielen will. "Wir werden mit allen politischen Kräften Gespräche zu führen", erklärte Litwins Sprecher. Das könnte lange Regierungsverhandlungen bedeuten.

Zu befürchten ist außerdem, dass die im Ringen um eine Koalition unterlegenen Parteien mit Protesten und Wahlanfechtungen die Korrektheit der Wahl anzweifeln werden. Gründe dafür lassen sich leicht finden. So waren die Wählerverzeichnisse im ganzen Land fehlerhaft und unvollständig - selbst der mächtige Bürgermeister von Donezk fehlte auf dem Wahlverzeichnis seines Sprengels. Beeinflussen könnte die Regierungsbildung auch der Druck aus Russland, da Moskau relativ unverhohlen mit einer Erhöhung der Erdgaspreise für die Ukraine droht, sollte die Partei der Regionen nicht in der Regierung vertreten sein.

Auch wenn es für den totalen Triumph nicht gereicht hat, die Frau des Tages blieb gestern freilich dennoch Julia Timoschenko. Den beeindruckenden Stimmenzuwachs verdankt sie nicht zuletzt der Tatsache, dass sie - im Gegensatz zu Juschtschenko, der als Präsident viel von seiner Strahlkraft eingebüßt hat - noch immer als das schöne, unverbrauchte Gesicht der orangen Revolution gilt.