Nur mehr 20 der rund 240 Wiener Tankstellen haben einen eigenen Tankwart. - Besuch bei einer aussterbenden Spezies.
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Ein trüber Tag, es ist kalt und regnet. Einerseits gut für Arslan Süleyman, denn an diesem Nachmittag wird er nicht viel zu tun haben. Andererseits schlecht, denn wenige Kunden bedeuten wenig Trinkgeld. Seit zehn Jahren ist Arslan Süleymann Tankwart in Wien-Penzing. In dieser Zeit hat er gelernt, dass bei schlechtem Wetter die Leute lieber zu Hause bleiben. Umgekehrt gilt: Kommt die Sonne heraus, ist auf der Tankstelle schnell die Hölle los.
Verwelkte Blütezeit
Der Tankwart war einmal eine Art Sir: Der Herr über den begehrten Treibstoff, mit adretter Arbeitskleidung, dazu die obligate Schirmmütze. Seine Blütezeit erlebte der Tankwart in den 1960er Jahren, damals, als es mit der Wirtschaft stetig bergauf ging und die Zahl der Autos von Jahr zu Jahr zunahm.
Heute ist der Tankwart, also jener Herr (äußerst selten: jene Frau), der (die) wie ehedem den Tankvorgang vornimmt und bei dieser Gelegenheit auch gleich nach Ölstand und Reifendruck schaut, eine aussterbende Spezies. Verdrängt vom sogenannten Tankstellenmitarbeiter, der bloß hinter der Kassa steht.
Statistiken fehlen, doch Klaus Brunnbauer, Obmann des Fachverbands Garagen, Tankstellen und Servicestationen der Wirtschaftskammer Österreich, schätzt, dass von den rund 240 Tankstellen in Wien nur noch 20 Bedienungsbetriebe sind. Österreichweit liegt ihr Anteil nach Auskunft der Mineralölkonzerne bei etwa sechs Prozent. Es sind vor allem die selbstständigen Tankstellenbetreiber, die noch auf Tankwarte setzen.
Autos verhießen einmal Freiheit, mittlerweile stehen sie meistens im Stau. Und aus dem einstigen Sir ist ein Dienstleister der seltenen Art geworden, den jene Autofahrer weiterhin zu schätzen wissen, die beim Tanken nicht aussteigen wollen. Oder die Angst haben, sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Oder die nicht so genau wissen, wo bei ihrem Auto die Tanköffnung ist.
Seine Tankstelle, sagt Arslan Süleyman, sei als "Frauentankstelle" verschrien. Sei’s drum, er sieht darin nichts Schlechtes. "Von mir aus können ausschließlich Frauen zu uns tanken kommen", sagt er und lacht.
Süleyman kam vor 40 Jahren aus der Türkei nach Österreich. Seine gelockten Haare hat er zu einem Zopf zusammengebunden. Gelernt hat er Schlosser, Tankwart wurde er, weil ihn ein Freund auf eine freie Stelle hingewiesen hatte.
Eine Ausbildung zum Tankwart gibt es in Österreich im Unterschied zu Deutschland nicht. Man muss Öl- und Benzindämpfe nicht unbedingt lieben, muss sie aber zumindest vertragen. Sonst ist man auf der Tankstelle fehl am Platz. Überhaupt darf man nicht zimperlich sein. Und was das Gehalt angeht, so muss man sich in Bescheidenheit üben - im ersten Dienstjahr verdient ein Tankwart rund 1400 Euro brutto. Und trotzdem: Süleyman liebt seine Arbeit. Denn er liebt den Kontakt mit Menschen. Mit Jungen und Alten, Frauen und Männern, Reichen und Armen.
Menschenkenntnis
Wo, wenn nicht auf einer Tankstelle kommt es zu einer wahren Durchmischung der Gesellschaft? Wo, wenn nicht hier kann man mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammenkommen? Süleyman hat es mit freundlichen und unfreundlichen Menschen zu tun, mit solchen, die grüßen, und solchen, die ihn gar nicht beachten und selbst beim Bezahlen ihr Handy-Gespräch nicht unterbrechen. Jeder Kunde muss anders behandelt werden, selbst wenn sich der Kontakt oft auf nur wenige Minuten beschränkt.
Menschenkenntnis ist in diesem Beruf daher besonders gefragt, man muss ein Gespür dafür haben, wie dem Gegenüber zu begegnen ist. Nur wer sich gerne auf andere Menschen einlässt, sei für diese Arbeit geeignet, sagt Süleyman. Das sei wichtiger, als sich beim Auto gut auszukennen.
Süleyman eilt zur Zapfsäule 5, wo ein Kunde vorgefahren ist. Er begrüßt ihn mit Handschlag. Aus der Ferne ist zu sehen, wie beide einige Worte wechseln und herzlich lachen. Süleyman kennt seine Stammkunden. Der eine tankt immer für 20 Euro. Der andere grüßt stets freundlich, sucht aber kein Gespräch. Und der dritte bleibt regelmäßig noch auf einen Kaffee im Kassaraum.
16-Stunden-Tag
Als Süleyman als Tankwart begonnen hatte, arbeitete er 16 Stunden am Tag. Zwei Tage Arbeit, zwei Tage frei. Seine Arbeitsschicht endete jeweils um 22 Uhr, dann ab nach Hause, essen, fernsehen, gegen Mitternacht ins Bett, um vier Stunden später wieder aufzustehen. Die Füße, sagt Süleyman, taten ihm damals öfter weh, doch sonst hätte er die Arbeit buchstäblich gut durchgestanden.
Heute, einige Jahre älter, würde er solch lange Arbeitstage nicht mehr durchstehen. Braucht er auch nicht, denn inzwischen ist die tägliche Arbeitszeit des Tankwarts auf zehn Stunden begrenzt worden. Dies hat Vor-, aber auch Nachteile. Ein Nachteil, sagt Süleyman, sei, dass er nun kein freies Wochenende mehr habe, da er sich die 12-Stunden-Schicht am Samstag mit einem Kollegen teilen müsse.
Raus und rein. So sieht Süleymans Arbeitsalltag aus. Raus zur Zapfsäule, rein zur Kassa, um die Zapfsäule für den nächsten Tankvorgang wieder frei zu schalten. In der ersten Zeit, sagt Süleyman, habe er einmal mit einem Schrittzähler gemessen, welche Strecke er an einem Tag zurücklegt - und kam auf beachtliche 35 Kilometer.
Immer in Bewegung, bei jedem Wetter. Immerhin ist Süleymans Arbeitsplatz überdacht. In der Felberstraße, Nähe Westbahnhof, gab es lange Zeit eine sogenannte Straßentankstelle, wo der Tankwart den Launen des Wetters schutzlos ausgeliefert war. Geführt wurde sie vom ehemaligen Fußballprofi Ernst Ocwirk. In früheren Zeiten wurden verdiente Austria-Spieler nach Ende ihrer Karriere von dem Sponsor und Mineralölbetreiber Leopold Stroh gerne mit einer Tankstelle als Art Altersversorgung bedacht.
Süleyman setzt den Scheibenputzer am unteren Rand der Autoscheibe an und führt ihn in einer kurvenförmigen Bewegung an deren Rand. Diesen Vorgang wiederholt er mehrere Male. Kein Schmutz, kein Wassertropfen bleibt zurück. Diese Reinigung führt er oft, aber nicht immer durch. Dann etwa nicht, wenn der Kunde wenig tankt und die Zeit dafür zu knapp ist. Auch dann nicht, wenn das Auto direkt aus der rückseitigen Waschstraße kommt, denn in diesem Fall kann die gerade erzielte Sauberkeit leicht Schaden nehmen, dazu genügt ein einziger Schmutztropfen, der auf den weißen Autolack fällt. Er habe, sagt Süleyman, schon Kunden gehabt, die daraufhin wahre Tobsuchtsanfälle bekommen haben.
Im Durchschnitt passieren pro Tag rund 500 Autos die angeschlossene Waschstraße hinter der Tankstelle. An schönen Tagen können es auch 750 werden. Dann herrscht hinten Hochbetrieb, im Sommer zu Saunabedingungen, denn zur großen Hitze gesellt sich hohe Luftfeuchtigkeit. "Länger als zehn Jahre hält die Arbeit in der Waschstraße niemand durch. Zu groß ist die psychische und physische Belastung. Ich hatte schon Kollegen, die zu Beginn ihrer Arbeit 120 Kilogramm wogen - und als sie aufhörten, nur noch 80", erzählt Süleyman.
Tage, an denen das Thermometer in seinem Kassabereich auf 40 Grad Celsius steigt und er jede Stunde sein T-Shirt wechseln muss, gibt es in jedem Sommer einige. Unangenehmer sei für ihn allerdings die Winterzeit, weil die einen ständigen Wechsel zwischen warmem Kassa- und kaltem Außenbereich bedeute. Ein Wechsel, der normalerweise zuverlässig zur Erkältung führt. Nicht so bei Tankwarten. Entweder stärkt der Beruf die natürlichen Abwehrkräfte oder der Tankwart ist per se ein Kerl, den nichts so schnell umhaut.
Hunderte Kunden - und vor allem Kundinnen - sind es, die pro Tag zum Tanken kommen. Am Anfang des Monats, sagt Süleyman, heiße es noch häufig: "Volltanken", später nur noch: "für zwanzig oder für zehn Euro". Im Laufe des Monats wird das Haushaltsgeld sukzessive weniger. Eine weitere Erfahrung des Tankwarts: "Die Arbeitslosen kommen immer am Achten zu uns tanken, dann, wenn sie ihr Geld vom AMS bekommen."
Immer etwas los
Süleyman hat das Gefühl, dass die Leute heute mehr aufs Geld schauen als früher. Das zeige sich nicht zuletzt beim Trinkgeld, das vor zehn Jahren noch großzügiger gegeben worden sei. Auch freundlicher seien die Menschen damals gewesen. Ein Freund von Süleyman kommt auf einen Kaffee vorbei. Das macht er oft und gerne. Er genießt es, einfach dazusitzen und dem Treiben auf der Tankstelle zuzuschauen. Für ihn das beste Schauspiel, ein "wahres Panoptikum".
Immer sei etwas los. Erst neulich habe er erlebt, wie ein Kunde Diesel für exakt 1,83 Euro haben wollte. Selbst für Süleyman eine Premiere, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Dabei kann ihn kaum noch etwas überraschen.
Alles war schon da: ein Einbruch, ein Überfall, Falschgeld, Kunden, die anschreiben lassen wollten. Ein defekter Autotank, der zu einer Diesel-Überschwemmung auf der Tankstelle führte, mit nachfolgendem Polizei- und Feuerwehreinsatz. Ein Kollege, der sich beim Versuch, mit dem Feuerzeug den Pegelstand des Tankstellen-Tanks abzulesen, schwerste Verbrennungen im Gesicht zuzog.
Kaputte Birnchen wechseln. Neue Scheibenwischerblätter montieren. Den Reifendruck kontrollieren. Diese Arbeiten gehörten einmal zum selbstverständlichen Repertoire einer Tankstelle. Nun sind sie den Bedienungstankstellen vorbehalten. An den Selbstbedienungstankstellen, die Ende der Siebzigerjahre aufkamen und heute den Markt beherrschen, wird dieser Service nicht mehr geboten. Dafür gibt es dort frische Semmeln. Süleyman packt seine Jause aus. Zum Essen kommt er nur, wenn auf der Tankstelle nichts los ist. Fixe Pausenzeiten kennt diese Branche nicht, warmes Essen auch nicht. Einst hatte die Tankstelle ihren Platz dort, wo die Menschen auch lebten, in den Wohnsiedlungen. Dann verlagerte sie sich immer mehr an die Randgebiete, an die Durchgangsstraßen. Eine Legende ist etwa die "Champion-Tankstelle" im ersten Wiener Bezirk, die so schmal war, dass das Auto mithilfe einer Drehbühne zum Tanken in Position gebracht werden musste.
Anfang dieses Jahres hat auch die Diskonttankstelle in der Neubergenstraße, in Wien-Fünfhaus, ihren Tankbetrieb eingestellt. Mit den Großen hätte ihr kleiner Betrieb, eine Hinterhoftankstelle, einfach nicht mehr mithalten können, sagt Elisabeth Landschützer, die Inhaberin. Ihre Eltern hätten pro Liter Treibstoff noch einen Schilling verdient, sie dagegen nur noch drei, vier Cent. Zu wenig, um zu überleben.
Sprit & Schmäh
Die Kunden mussten in dem ebenso charmanten wie engen Hinterhof ihr Auto zum Tanken wenden. Das nahmen sie in Kauf, weil der Service passte. Bei Wilhelm Dymak und Michael Zeleny, den beiden Tankwarten aus Leib und Seele, wussten sie sich stets in guten Händen. Außerdem hatten sie immer einen Schmäh drauf. Hier zu tanken war wie bei guten Freunden vorbeizuschauen.
Allein vom Spritverkauf kann eine Tankstelle heute nicht mehr leben. Es muss schon ein Shop oder Reifenhandel dazukommen, um rentabel wirtschaften zu können. Das Shop-Geschäft, heißt es in Insiderkreisen, mache zwar nur ein Viertel des Umsatzes aus, bringe jedoch ein Drittel des Gewinns. Bei Süleyman wird mit der Waschstraße Geld gemacht.
Es ist Abend geworden. Die Zentrale in Tirol setzt die Spritpreise in ihrer Wiener Dependance herab, automatisch langen die neuen Zahlen an den Zapfsäulen und im Computer von Süleyman ein. Er selbst muss die Änderung nur außen am Preisturm vornehmen.
Diese Preissenkung, weiß Süleyman aus Erfahrung, wird noch einen kleinen Ansturm auslösen. Denn inzwischen ist über Internet jederzeit zu erfahren, welche Tankstelle in einem Gebiet gerade die günstigsten Spritpreise hat. Und es gibt tatsächlich Kunden, die von einem Ende der Stadt zum anderen fahren, um beim Tanken 40 Cent einzusparen.
Pro Tag darf der Spritpreis nur noch einmal hinaufgesetzt werden, um die Mittagszeit, diese Regelung führte der einstmalige Wirtschaftsminister Bartenstein ein. Doch herabgesetzt werden kann er immerzu und beliebig oft. Und so ist eine Änderung des Preises bis zu vier, fünf Mal am Tag keine Seltenheit.
Selbst ist der Mann, selbst ist die Frau. Das ist die Losung unserer Zeit: Selbst müssen wir am Bankschalter die Überweisung vornehmen, selbst unsere Waren im Supermarkt zusammensuchen. Doch vielleicht kehrt sich der Trend wieder um. Vielleicht kommen Greißlerläden zurück, vielleicht werden die Leute, der virtuellen Welt überdrüssig, wieder persönlichen Kontakt, Beratung und Austausch schätzen lernen.
Diese leise Hoffnung hat zumindest Andreas Weltler, seit 1986 Inhaber der Johannatankstelle in Wien-Margareten. Obwohl die Personalkosten für ihn ein hoher Ausgabenposten sind, führt er die Tankstelle so weiter, wie sie schon sein Vater geführt hat: mit Tankwarten. Weltler setzt auf Bedienung, auf Kommunikation, auf Service - als jene entscheidenden Merkmale, mit denen er sich von vielen anderen (anonymen) Tankstellen unterscheidet. Und das darf man ruhig super finden.
Wenzel Müller, geboren 1959 in Sindelfingen (D), lebt als Journalist, Sachbuchautor und Lehrer in Wien.