Die Unzufriedenheit in Russland ist groß, dem Protest fehlt jedoch Einigkeit.
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Die Proteste urbaner Mittelschichten in Russland kamen unerwartet. Die als unerschütterlich angesehene Herrschaft Wladimir Putins ist es nicht mehr. Der rasche Niedergang ist unwahrscheinlich, die Erosion aber unaufhaltsam.
Die Wahlen zur Staatsduma am 4. Dezember 2011 endeten mit unerwartet hohen Verlusten für die Staatspartei "Geeintes Russland" (minus 14,9 Prozent). Angesichts dokumentierter Verstöße bei der Wahlauszählung ist anzunehmen, dass der Verlust an Zustimmung noch höher ist, als die offiziellen Angaben ausweisen. Das Elitenkartell, das Russland beherrscht, konnte es sich nicht leisten, die Wahl noch stärker zugunsten von Geeintes Russland zu fälschen. Eine gesteuerte und kontrollierte Niederlage erschien letztlich besser als eine eklatante Fälschung der Ergebnisse. Stimmenverluste sollten als Beleg für demokratische Wahlen ausgegeben werden.
Immerhin konnte die Staatspartei trotz der Wahlniederlage ihre dominierende Stellung behalten; nicht nur weil sie die absolute Sitzmehrheit halten konnte, sondern auch, weil zumindest die Abgeordneten der rechtsnationalistischen LDPR als sicherer Stimmenblock für das Regime gelten können. Überdies sind Bestechung, Druck und Einschüchterung seit 1993 bekannte und wiederholt genutzte Mittel, Abgeordnete zu erwünschtem Stimmverhalten zu drängen. Entscheidend war aber von Beginn an, dass die Wahlen eine zumindest ausreichende Legitimität für die "neue" Führung des Landes sicherstellen; das sollte die kontrollierte Niederlage ermöglichen.
Zur Überraschung der derzeitigen Führung aber ist das Vorhaben nicht gelungen. In den urbanen Zentren des Landes, allen voran in Moskau, hat sich Protest gegen die Wahlfälschungen erhoben. Die Bürger begehren nun auf. Die Demonstrationen in Moskau und anderen Städten des Landes fordern die Annullierung der Wahlen, die Absetzung der Leitung der Zentralen Wahlkommission, die Zulassung liberaler politischer Parteien und die Durchführung von Neuwahlen.
Putin ist nicht mehr in der Lage, die Leute ähnlich stark zu mobilisieren wie früher. Die "Marke Putin" hat durch die mediale Überpräsenz gelitten. Die medialen Inszenierungen seiner Berater wirken immer häufiger peinlich. Die Zustimmung zu Putin beruhte vor allem darauf, dass in seiner Regierungszeit die soziale und wirtschaftliche Krise und die politische Instabilität der 90er Jahre ein Ende fanden. Die jungen Wähler aber haben diese Jahre nicht bewusst miterlebt, Putins Stabilitätsangebot wirkt bei diesen nicht; es löst bei ihnen vielmehr Angst vor Stillstand aus.
In vielen Bereichen sind die Bürger von den Leistungen Putins enttäuscht. Das betrifft vor allem den Kampf gegen Korruption, die unter Putin noch schlimmer geworden ist. Die Wähler lasten ihm aber auch immer mehr die starke soziale Ungleichheit an: Die Einkommensunterschiede in Russland sind enorm und weiten sich aus. Der entscheidende Faktor für den Vertrauensverlust in die Führung war aber die Ankündigung Präsident Medwedews vor wenigen Monaten, sich nicht um eine zweite Amtszeit als Präsident Russlands zu bemühen. Bestätigt sehen sich jene, die Medwedew immer als "technischen Präsidenten" gesehen haben, der das Amt gleichsam nur kommissarisch übernommen habe, weil Putin eine dritte konsekutive Amtszeit verfassungsrechtlich untersagt war. Enttäuscht sind jene, die für möglich hielten, dass sich Medwedew im Amt von seinem Mentor emanzipieren würde.
Die Reputation Medwedews ist nun stark erschüttert; viele sehen ihn jetzt als eine rückgratlose Persönlichkeit. Dies wird seine Autorität als Vorsitzender der Regierung, die er nach Putins Wahl zum Staatspräsidenten anführen soll, nachhaltig aushöhlen. Aber auch Putins Ansehen ist deutlich gesunken. Die Führungsrochade ist in den Augen der Bürger eine Charade, die beide diskreditiert. Zwar war das Tandem durchaus wirksam gewesen, um moderate liberale (Medwedew) und konservativ-traditionalistische Wähler (Putin) zusammenzuführen und zu halten; durch den Ämtertausch aber haben beide an Kraft verloren, diese sozialen Milieus an sich zu binden.
Der soziale Aufruhr gegen das herrschende Kartell ist politisch aber sehr heterogen. Natürlich sind es viele sozial- und wirtschaftsliberale Aktivisten, aber es sind auch sozialistische, kommunistische, monarchistische und sogar rechtsextreme Demonstranten. Die Abneigung gegen das herrschende Establishment vermag die disparate politische Opposition in Russland zu einen. Es ist ein negativer Konsens. Auf ein gemeinsames Gegenprogramm aber konnte sich die Opposition bislang nicht einigen. Es wundert daher nicht, dass ihnen eine anerkannte gemeinsame Führungsfigur fehlt. Die rechtsliberalen Vertreter, die Russland in der Jelzin-Ära regiert haben (wie Boris Nemzow, Wladimir Ryschkow oder auch Michail Kasjanow), sind diskreditiert. Der alternde und egozentrische linksliberale Grigori Jawlinski wiederum kann die junge Protestbewegung nicht begeistern.
Die Helden der Demonstranten sind der Jurist Alexej Nawalny und Ilja Jaschin. Vor allem der charismatische Nawalny wurde zur Ikone des jugendlichen Aufbegehrens. Im Februar 2011 hat Nawalny die Bezeichnung "Partei der Diebe und Schwindler" (Partija shulikow i worow) für die Staatspartei Geeintes Russland geprägt. Diese Losung wurde zum inhaltlichen Referenzpunkt zahlreicher dissidenter Strömungen und Bewegungen. Bemerkenswert an Nawalny ist, dass er nicht nur gegen die Korruption in der staatlichen Bürokratie, die politische Gängelung und gegen Geeintes Russland und Putin agitiert. Nawalny zählt darüber hinaus nämlich auch zu den charismatischen Führern der russisch-nationalistischen Bewegung. Er hat mehrfach am "Russischen Marsch" am 4. November - dem "Tag der Volkseinheit" - teilgenommen; 2011 war er sogar im Organisationskomitee. Nawalny ist ein rücksichtloser Kritiker der herrschenden Kaste; wie stark er aber in demokratischen Werten verankert ist, ist unklar.
Auch wenn der Protest der Bürger abflauen sollte, wurde die Ausgangslage für die Präsidentenwahlen am 4. März 2012 deutlich verändert: Das Regime wird den Zugang oppositioneller Kandidaten zu den elektronischen Medien offener gestalten und die Wahlen selbst transparenter durchführen müssen. Aus derzeitiger Sicht ist Putins erneute Wahl zum Präsidenten nicht gefährdet; zumindest in einem möglichen zweiten Wahlgang wird er die nötige Mehrheit bekommen. Es ist auszuschließen, dass sich die Gegner Putins in einem zweiten Wahlgang hinter dem Herausforderer scharen. Dies gilt besonders dann, wenn der Führer der Kommunisten Gennadi Sjuganow in die Stichwahl gegen Putin gelangen sollte.
Außerdem kann sich Putin, anders als seine Partei, noch immer auf hohe, wenn auch rückläufige Zustimmungswerte stützen. Der Rückhalt ist besonders stark bei den weniger gebildeten Schichten, bei mittleren bis älteren Personen, in Kleinstädten und auf dem Land. Das eigentliche Risiko für Putin ist, dass er plötzlich nicht mehr unberührbar ist. Seine Strahlkraft ist verloren gegangen; seine Selbstdarstellung, nahezu von der gesamten Bevölkerung unterstützt zu werden, überzeugt nicht mehr. Wenn ein Präsident nicht über genügend Legitimität verfügt, wird es ihm auch schwerfallen, die wirtschaftlichen und finanziellen Reformen voranzutreiben, die notwendig sind, um Russland zu modernisieren. Dazu fehlt dann ein explizites Mandat und der angeschlagene Zar wird alles unterlassen, was seine Autorität und Beliebtheit weiter mindern könnte.
Wenn Putin erneut Präsident sein wird, wird er einen liberalen Reformer zum Premier ernennen. Putin und seine Berater wissen, dass die in Unruhe versetzte Mittelschicht zumindest in dieser Funktion eine Person verlangt, die deren Interessen berücksichtigt. Überdies wäre eine liberale Regierung auch hilfreich, die Kontakte zu den Staaten zu erleichtern, deren politische Führungen Putin distanziert gegenüberstehen.
Es ist trotz gegenteiliger Zusagen aber nicht sicher, dass dies Medwedew sein wird. Ex-Finanzminister Kudrin wäre eine ideale Besetzung für dieses Amt. Allerdings stellt er die Kürzung des Wehretats und eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters als Bedingungen. Das allerdings wird Putin vor ein Dilemma stellen: Ausgabenkürzungen in 2012 sind für das angeschlagene Regime gefährlich. Zugleich aber drohen Einnahmenrückgänge, wenn die wirtschaftliche Rezession in der EU tatsächlich massiv und anhaltend sein sollte.
In das soziale Gefüge Russlands ist Bewegung gekommen. Die starre Stabilität löst sich auf. Wenn der neue Präsident Putin darauf nicht behutsam reagiert, werden die jungen, gebildeten städtischen Russen das Land verlassen.
Gerhard Mangott ist Russland-Experte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck.