Die Mehrheit der russischen Bevölkerung hält Stalin für einen Vater des Vaterlands. Die russisch-orthodoxe Kirche ist aufgewertet und hat fast schon die Position, die sie in der Zarenzeit hatte. Die Regierung veranstaltet Militärparaden wie weiland Leonid Breschnjew. Und jetzt hat der Oberste Gerichtshof Russlands den letzten russischen Zaren Nikolaus II. in aller Form rehabilitiert und als Opfer der politischen Unterdrückung in der Sowjetunion anerkannt. | Die kommunistischen Machthaber hatten die Zarenfamilie Romanow als Verbrecher gebrandmarkt, um die Ermordung des zu diesem Zeitpunkt bereits entmachteten Nikolaus II. und seiner Angehörigen zu rechtfertigen. Das Verhältnis zwischen den nach-kommunistischen Machthabern und der Familie Romanow blieb undurchsichtig. Erst Wladimir Putin hatte keine Berührungsängste mehr, und der derzeitige Präsident Dmitri Medwedew gilt sogar als Anhänger Nikolaus´ II.
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Im neuen Russland passt nichts mehr zusammen. Oder alles, wenn der Beobachter den Blickwinkel wechselt: Zaren, Paraden, Popen. Denn in Russland macht sich eine neue Ideologie breit. Es geht nicht mehr um Kommunismus stalinistisch hart, Kommunismus gorbatschesk sanft oder jelzinische Demokratie. Gesellschaftspolitische Entwürfe gehören der Vergangenheit an. Der einzige Inhalt der neuen russischen Ideologie ist die Macht Russlands. Dieser Ideologie wird alles untergeordnet. Und sei es noch so unvereinbar. Putin hat diese Ideologie als Präsident begründet. Medwedew ist ein politischer Zögling Putins. Er setzt diese ideologiefreie Ideologie der Macht fort.
Leichte Inkonsequenzen haben dabei in Russland Tradition. So sprachen auch zu Sowjet-Zeiten die Machthaber und das Politbüro einzelnen Zaren eine Vorbildfunktion zu. Iwan IV. (1530 bis 1584, Zar ab 1549), dessen Beiname "der Schreckliche" in korrekter Übersetzung des Wortes "grosnyj" "der Strenge" heißen müsste, war als Reichsgründer das Vorbild für Stalin. Peter I. "der Große" (1672 bis 1725, Zar ab 1682) wurde als Modernisierer Russlands gefeiert, obwohl er dem den Kommunisten verhassten Haus Romanow entstammte.
Im heutigen Russland ist die ideologische Inkonsequenz die Regel - aber nur, wenn man die herkömmliche Bedeutung von "Ideologie" voraussetzt.
Das neue Russland indessen beschwört in einem geradezu postmodern anmutenden politischen Sammelsurium die alten Insignien der Macht unabhängig von ihren ideologischen Inhalten. Lange genug hat man sich vom Westen gedemütigt gefühlt. Jetzt sucht man, den alten Glanz zu erneuern. Egal, ob er von Ikonen, Zaren oder fallweise auch sowjetischen Machthabern verbreitet wird.
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