Warum wir über den Charakterwandel der EU reden müssen.
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In Rüstungsfragen herrscht Erklärungsbedarf. Alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates legen dar, dass ein Atomkrieg "nie ausgefochten werden darf". Frankreich ist dabei ein zentraler Player. Mit Jahreswechsel hat die viertstärkste Atommacht (nach USA, Russland und China) den EU-Vorsitz übernommen, koordiniert in Bezug auf Atomwaffen das seit Jahrzehnten ohnehin Feststehende und treibt Rüstungsfragen im EU-Rahmen voran.
Was haben die Lehren aus Afghanistan, der Strategische Kompass, die EU-Autonomie, das militärische Kerneuropa oder die EU-Strategie im Indopazifik gemeinsam? Sie alle bringen Schwung für mehr Truppen und mehr Rüstung. Die Diskussionsdynamik ist altbekannt. Während im Rampenlicht über Werte, Partner und Wirtschaft parliert wird, erhält die Hard Power abseits der Scheinwerfer konkrete Summen. Die EU blinkt zivil und biegt militärisch ab.
Was ist Sache so pikant macht, lässt sich am Strategischen Kompass der EU in puncto Demokratie und Friedensfähigkeit ablesen. Im Zentrum steht eine nach dem Afghanistan-Debakel forcierte Truppe. Ähnliche Schlüsse zog die EU schon aus dem Kosovo-Krieg 1999. Der aktuelle Vorschlag der "modular force" aus dem Kompass von bis zu 5.000 Soldaten soll bis 2025 stehen. Einsatzszenarien sind derzeit noch offen. Rüstungsprojekte zur Verwendung am Land, auf See, zur Luft, im Cyber- und Weltraum laufen bereits.
Die Bedrohungsanalyse ist ein Dokument der Nachrichtendienste und folglich geheim. Aus bisherigen Beratungen der zuständigen Minister wird die Öffentlichkeit kaum schlauer. Der Kompass wurde unter deutscher EU-Präsidentschaft eingefädelt und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird seine Annahme verkünden. Ein eingespieltes Tandem: Unter den weltweit größten Waffenexporteuren nehmen Frankreich und Deutschland die Plätze drei und vier ein und entwickeln aktuell gemeinsam ein Kampfflugzeugsystem und einen Kampfpanzer.
Außenpolitisch ist die EU oft uneinig. Nach dem Strategischen Kompass könnte am Ende auch eine europäisch geführte Ad-hoc-Koalition oder Kerneuropa-Truppe ins Feld geschickt werden. Entscheidungen über Militäreinsätze fallen einstimmig, aber wer nicht mitmacht, verliert im Rahmen des Einsatzes die Mitsprache. Konstruktive Enthaltungen sollen Truppen rasch und flexibel in Marsch setzen können. Aufgrund der Vertraulichkeit des Prozesses wird sich die Vereinbarkeit mit der Neutralität erst am Ende herausstellen.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betont, der Strategische Kompass sei kein Zauberstab. An politischen Zauber grenzt aber, dass laut EU-Vertrag von Lissabon "Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen nicht zu Lasten des Unionshaushaltes" gehen dürfen und dennoch von 2021 bis 2027 Milliardenbeträge in EU-Rüstungsfonds, Militärmobilität, Weltraumprogramme, Militäreinsätze oder EU-Waffenexporte gehen. Mehr denn je soll militärisches Vorangehen der Fähigen und Willigen uneinige EU-Außenpolitik kompensieren. Die EU macht das weder ziviler noch demokratischer. Ziviles bleibt unterfinanziert, nebulös, schleppend umgesetzt. Wir müssen über den Charakter der Friedensnobelpreisträgerin EU reden.