Berlin - Mit dem zehnten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober hat hier das große Feiern und Bilanzieren seinen Höhepunkt erreicht. Der heutige offizielle Festakt in der Dresdner Semperoper berührt die Berliner zwar recht wenig. Aber dass die Hauptstadt drei volle Tage lang unter dem Motto: "Zehn Jahre danach - Berlin feiert" eine Riesenfete veranstaltet, stößt auf Gegenliebe.
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Schon am Sonntag lief rund um das Brandenburger Tor und den Reichstag ein Marathon-Volksfest, eingeleitet mit einem "Marktplatz der Bundesländer". Ausländische Berliner präsentierten darüberhinaus ein Büfett der Nationen. Musik und Unterhaltung gehörten ebenso zum sonntäglichen Non-Stop-Programm, wie Talks mit Zeugen der Wendezeit aus Politik, Wirtschaft und Kultur.
Am 2. Oktober startete die zentrale Veranstaltung vor dem Reichstag: Chöre, Orchester, Solostars der Spitzenklasse wie Andrè Rieu, Peter Maffai, die Phudys, Dieter Hallervorden wurden umjubelt, und Politiker wie Hans-Dietrich Genscher oder Lothar de Maizière fanden viel Gehör. Das sechsstündige nächtliche Volksfest auf dem Platz, auf dem in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 über hunderttausend Menschen die Einheit euphorisch begrüßt hatten, erinnerte genau um 0.00 Uhr mit zehn Glockenschlägen und einem mythologischem Feuertanz an die Zeit vor zehn Jahren.
Heute, am eigentlichen Feiertag, wird Unter den Linden, am Pariser Platz und Reichstag bei "Deutschlands Fest" noch einmal alles aufgeboten. Die Veranstalter erwarten erneut hunderttausende Besucher. Die Kosten, rund 1,6 Millionen DM, sollen von Sponsoren aufgebracht worden sein. Als Alternative zu diesem offiziellen Programm veranstaltet die PDS auf dem "Alex" ihren traditionellen "Einhei(ts)zmarkt".
In den zehn Jahren seit dem Ende der DDR und der 45-jährigen Teilung Deutschlands hat sich im Osten viel Sichtbares und Wohltuendes getan. Die materielle Situation vieler Bürger hat sich erheblich verbessert. In einer enormen Aufbauleistung wurden die Infrastruktur, das Verkehrs- und Kommunikationswesen ausgebaut, hunderttausende Wohnungen modernisiert, neues Wohneigentum geschaffen, die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen stabilisiert und der Schutz der Umwelt deutlich angehoben. Wesentliche Zugewinne gab es an individueller Freiheit, an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Alles in allem für Viele ein Grund zu feiern.
Aber die Bilanz ist trotzdem gemischt. Die staatliche Einheit ist vollzogen, die innere Einheit noch nicht. Immer mehr Ostdeutsche spüren ein erhebliches Wohlstandsgefälle. Man sieht, dass der größte Teil der Aufbaugelder als Gewinne in den Westen zurückfließen. Kritisch wird hinterfragt, wieso 85 Prozent des ehemaligen Eigentums der DDR, die Betriebe, der Wohnungsbestand, Grund und Boden, die 30.000 staatlichen Geschäfte, Gaststätten und Hotels, 400 Kaufhäuser und 800 Kaufhallen jetzt im Besitz von Altbundesbürger sind. Ostdeutsche Kapitaleigner verfügen nur über 5 Prozent, der Rest ist in ausländischem Besitz. Nur sechs Prozent der deutschen Immobilienbesitzer sind "Ossis".
Die gemischte Bilanz geht aber nicht nur ums liebe Geld. Viele Ostdeutsche bemängeln die fehlende verfassungsgemäß gebotene Chancengleichheit, ihre Unterrepräsentation in den führenden Positionen von Politik und Verwaltung, Justiz und Wissenschaft, Wirtschaft und Medien, die fehlende Anerkennung ihrer Lebensleistungen, ihrer Qualifikation und Erfahrungen. Sie verfolgen mit wachsender Besorgnis, dass mit 1,4 Millionen die Arbeitslosenquote im Osten doppelt so hoch ist wie im Westen, dass die Massenabwanderung junger und qualifizierter Arbeitskräfte in den Westen anhält. Darüberhinaus mischt sich in die Jubelfeiern dieser Tage Nachdenklichkeit über das erschreckende Ausmaß von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus, die wachsende Kriminalität, die ständig steigende Zahl der Insolvenzen und die Verschärfung der sozialen Gegensätze.