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Zehn Jahre und kein Durchbruch

Von Michael Gehler

Gastkommentare

Fortgesetzte Ratifizierungsprobleme, Kompromisse gegenüber Briten und Iren, drängende Aufgaben und offene Zukunftsfragen - eine Bilanz zum EU-Vertrag von Lissabon.


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Am 13. Dezember 2007 wurde im Hieronymus-Kloster in Lissabon feierlich der bis heute geltende EU-Vertrag unterschrieben. Zwei Jahre dauerte es, bis er am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Das Gleiche war schon bei den EU-Verträgen von Maastricht (1991/1993), Amsterdam (1997/1999) und Nizza (2001/2003) der Fall gewesen. So sperrte sich das deutsche Bundesverfassungsgericht, bis Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat gesichert waren. Und am 12. Juni 2008 lehnten die Iren mit 53 Prozent den Vertrag ab - erst ein zweites Referendum am 2. Oktober 2009 erbrachte dank einer Informationskampagne der irischen Regierung ein positives Votum von 67 Prozent. Die Bewältigung der Wirtschaftskrise sowie Ängste vor einer Isolation und einem Investitionsstopp ausländischer Unternehmen führten dazu. Die skeptischen Polen und Tschechen gaben folglich ihren Widerstand auf.

Zentrale Elemente des zuvor in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 abgelehnten "Verfassungsvertrags" konnten mit dem "Reform-Vertrag" von Lissabon beibehalten werden: Das EU-Parlament entscheidet in der Gesetzgebung und gemeinsam mit dem Ministerrat über den Haushalt und internationale Übereinkommen mit. Gleichberechtigung zum Rat der EU war bei vielen Rechtsvorschriften gegeben und die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates mit qualifizierter Mehrheit möglich. Dieser wurde für zweieinhalb Jahre eingesetzt und konnte sich einmal zur Wiederwahl stellen.

Mehr Übersichtlichkeit und Demokratie?

Nach ergebnislosen Ringen zwischen Jean-Claude Juncker und Tony Blair kam der Flame Herman Van Rompuy ins Spiel, der mit ausgleichender, moderierender und konsensorientierter Art als Ratspräsident agierte. Der EU-Außenminister durfte laut Briten nur "Hoher Vertreter" heißen, gleichwohl die britische Baronin Catherine Ashton diese Funktion übernahm. Ein Europäischer Außendienst (EAD) mit EU-Botschaften in weit mehr als 100 Länder ist seither aktiv. Mit dem Verzicht auf die Verkleinerung der EU-Kommission auf höchstens zwei Drittel der Zahl der EU-Staaten wurde Irlands Forderung nach einem eigenen Kommissar nachgegeben.

Mit der Verteilung der Kompetenzen in "ausschließliche", "geteilte" und "unterstützende" sollte das Agieren der EU nachvollziehbarer werden. Zu den "ausschließlichen" Kompetenzen zählen die Zollunion, die Wettbewerbsregeln, die Währungspolitik und die gemeinsame Handelspolitik. Die EU wurde eine eigene Rechtspersönlichkeit, womit sie internationale Verträge abschließen kann, wenn ihre Zuständigkeit gegeben ist oder die Mitgliedstaaten sie beauftragen. Das Subsidiaritätsprinzip galt schon seit Maastricht, gleichwohl Überprüfungsmechanismen eingeführt wurden.

Die nationalen Parlamente sollten über die neue EU-Gesetzgebung rechtzeitig informiert werden sowie darauf einwirken und sich rückversichern können, was sich aber in der Praxis durch zu kurz angesetzte Fristen als schwierig bis unmöglich erwies. Ein EU-weites Bürgerbegehren sollte mit Unterschriften von einer Million Bürger aus einer jedoch unklar gehaltenen "erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten" die Kommission veranlassen, einen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten beziehungsweise auf Eis zu legen. Letzteres sollte durch die Rücknahme der strittigen EU-Wasserrecht-Richtlinie gelingen.

Erst Distanz und schließlich Scheidung

Die schon im "Verfassungsvertrag" verankerte Austrittsmöglichkeit von der Union wurde in Lissabon bestätigt. Das öffnete die Tür zum Brexit. Die britische Seite machte ihre Zustimmung zum Vertrag auch vom Verzicht auf staatsähnliche Symbole (Europatag, Flagge, Hymne) abhängig. Selbst die Grundrechte-Charta war kein integraler Teil des EU-Vertrags mehr, aber durch einen Annex verbindlich - mit Ausnahmeregelungen für Großbritannien und Polen. Auch Tschechien strebte Sonderkonditionen an. Das waren bereits Anzeichen von Entfremdung.

Lissabon war nur eine Etappe. Für die Bewältigung der sich in Folge auftürmenden Herausforderungen war der Vertrag ungenügend. Für die zukünftigen Aufgaben sah er keine Bestimmungen vor, zum Beispiel für den Ausbau des Küsten- und Grenzschutzes, die Einrichtung von Asylmissionen an den "Hotspots", flankiert durch eine Europäisierung des Asylrechts und ein europäisches Einwanderungsgesetz zur Regelung der Aufnahme, Begrenzung, Unterbringung und des Zugangs zum Arbeitsmarkt sowie "Migrationspartnerschaften" mit Drittstaaten.

Weitere Erfordernisse sind die Etablierung einer europäischen Arbeitslosenversicherung zur Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität, die Schaffung von mehr Konvergenz bei den Verteidigungskapazitäten und die Verstärkung des Krisenmanagements in den EU-Peripherien zur Fundierung der zuletzt aus der Taufe gehobenen "Permanent European Security Cooperation Organization" vulgo "PESCO", einer Initiative, die nach "GASP" und "GESVP" nicht ein weiteres wirkungsloses Akronym sein sollte.

Damit nicht genug: Die Implementierung eines digitalen Binnenmarkts drängte. Nach dem Scheitern der Freihandels- und Investitionspartnerschaft mit den USA sind diesbezügliche Initiativen mit Australien, Japan, Mexiko, dem Mercosur und Neuseeland Ziele. Die bereits beschlossene Energieunion mit einem multilateralen Clearing-System wechselseitig austauschbarer Ressourcen bleibt dagegen eine Jahrhundertaufgabe.

Stärkung der Legitimation durch Vertragstreue

Naheliegender ist eine Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einem vom IWF unabhängigen Europäischen Währungsfonds (EWF) mit einem europäischen Finanzminister, einer glaubwürdigen No-Bail-out-Klausel und einer geordneten Insolvenzregelung für anhaltend zahlungsbilanzdefizitäre Euro-Länder. Eine weitere Demokratisierung der EU-Institutionen ist durch ein neues EU-Wahlrecht mit echten europäischen Parteien (statt nur Parlamentsfraktionen) und mehr Transparenz bei integrationspolitischen Entscheidungen erforderlich. Darüber hinaus sind durchgreifendere Druckmittel bis hin zur Ausschlussandrohung zur Abwehr der Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten notwendig.

Die EU kann nur mit Eigenverantwortung und Solidarität funktionieren. Gemeinsam getroffene Entscheidungen sind einzuhalten. Ihre Schwerfälligkeit ist auf Dauer weder finanzierbar noch vermittelbar. Ein neuer Unionsvertrag scheint angesichts des grassierenden Populismus und nationaler Vorbehalte noch fern. Mangels Besserem sind derzeit nur Pioniergruppen mit außervertraglichen Regelungen eine Option. Und: Solange die Brexit-Frage unbeantwortet ist, wird man Geduld haben müssen. Ein Durchbruch wird frühestens 2019 mit einem neu gewählten EU-Parlament und einer anderen Führung der EU-Kommission kommen.