Die EU-Kommission will eine Debatte über die Zukunft der Europäischen Union bis 2025 anstoßen.
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Brüssel. Zeit für Visionen: Wenn die Staats- und Regierungschefs aus 27 EU-Ländern am 25. März in der Hauptstadt Italiens zusammenkommen, um der Unterzeichnung der Römischen Verträge und damit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu gedenken, wollen sie mehr als eine Retrospektive. Sie sollen nicht nur Rückschau auf die vergangenen 60 Jahre halten, sondern sich auch Gedanken über die kommenden Jahre machen. Das zumindest wünscht sich die EU-Kommission, die gut drei Wochen vor dem Gipfeltreffen ein sogenanntes Weißbuch präsentiert hat, das eine Debatte über die Zukunft der EU anstoßen soll.
"Die Gründungsväter der Union waren Visionäre", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei der Vorstellung des Dokuments im EU-Parlament in Brüssel: "Nun ist es Zeit für uns, Pioniere zu sein." Die Entwicklungen in der Welt würden immer rasanter; Umstände ändern sich nicht jährlich oder monatlich, sondern täglich. Die EU dürfe sich davon nicht überrollen lassen, befand Juncker: "Europa darf nicht müde werden; es muss hellwach bleiben." Dass es auch geeint bleiben muss, ist für den Luxemburger eine Selbstverständlichkeit. Daran ändere auch der anstehende Austritt Großbritanniens nichts: "Der Brexit, so bedauerlich er ist, wird uns nicht stoppen."
Welchen Weg die verbleibenden 27 Mitglieder einschlagen, ist freilich noch offen. Denn die Meinungen darüber gehen auseinander. Wie viel Integration nötig und wünschenswert ist, ob die Staaten mehr Kompetenzen an die EU-Institutionen abgeben, ob diese selbst verändert werden sollen ist genauso umstritten wie die Pläne zu einer gemeinsamen Flüchtlings- und Migrationspolitik, einer europäischen Verteidigung oder zur Festigung der Wirtschaftsunion. Die Ideen dazu sind vielfältig, und mit ihrem Weißbuch möchte die Kommission der Debatte eine Struktur geben.
Fünf Szenarien
So präsentierte Juncker in dem Dokument fünf Szenarien für die Entwicklung der Europäischen Union bis zum Jahr 2025. Die Überlegungen darin reichen von einem "Weiter wie bisher" über verstärkte Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen bis hin zu einer Vertiefung der Gemeinschaft, die das Teilen von nationalen Kompetenzen mit den anderen Mitgliedern voraussetzen würde.
Formulierungen wie "Änderungen der EU-Verträge" oder "Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten", wie es zuletzt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Diskussion eingebracht hat, kommen in dem Text allerdings nicht vor. Doch ist eines der Konzepte betitelt mit: "Wer mehr will, tut mehr". So könnte eine Gruppe von Mitgliedstaaten bei einem bestimmten Projekt voranschreiten, ohne auf die anderen warten zu müssen. Einige Länder versuchen das etwa derzeit mit der geplanten Besteuerung von Finanztransaktionen. Da sich nicht alle Staaten auf deren Einführung einigen konnten, bemüht sich nun ein knappes Dutzend von ihnen - darunter Österreich - darum.
Ebenso gehören nicht alle Mitglieder der Euro-Zone oder dem Schengen-Raum an, in dem Reisen ohne Passkontrollen möglich ist. Als weitere Beispiele der verstärkten Zusammenarbeit nennt die EU-Kommission die Entwicklung und Nutzung von Drohnen für das Militär durch mehrere Länder oder die Schaffung eines gemeinsamen Polizeikorps zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität.
Es sollen aber keine exklusiven Klubs entstehen. Lieber spricht Juncker von einer "Avantgarde", die andere nicht ausschließen, sondern diesen den Weg bereiten soll. Diese Variante scheint denn auch realistischer zu sein als jene, bei der ein vereintes Europa das Ziel ist. Das würde weit mehr gemeinsames Handeln als bisher voraussetzen, eine Intensivierung der Kooperation in allen Bereichen. Entscheidungen könnten so schneller getroffen und die Rechte der EU-Bürger grenzüberschreitend verankert werden. Allerdings sind EU-Skeptiker schon jetzt der Auffassung, dass die Union zu viele Kompetenzen hat.
Mehr Anklang könnte daher - neben der Idee der verstärkten Zusammenarbeit - die Option eines "Weniger, aber effizienter" finden. Dabei würde sich die Gemeinschaft auf einige Bereiche konzentrieren, in denen sie rasch Ergebnisse erzielen kann und sich aus anderen Gebieten zurückziehen. Beispiele dafür wären die Schaffung einer europäischen Behörde zur Terrorbekämpfung oder eine Anpassung der sehr unterschiedlichen Sozial- und Steuersysteme.
Verwalterrolle unerwünscht
Was Juncker am wenigsten gefallen würde, ist das Szenario, das den Schwerpunkt beim Binnenmarkt setzt, wenn sich die 27 EU-Staaten in allen anderen Politikbereichen nicht einigen können. Dem Kommissionspräsidenten würde das nicht ausreichen, weil die EU darüber hinausgehe - und weil es die Rolle der Brüsseler Behörde schmälern würde. Dabei will Juncker nicht, dass die Kommission zu einer "Binnenmarkt-Verwalterin" degradiert werde.
Nun sind die Mitgliedstaaten an der Reihe. Wenn es nach den Vorstellungen der Kommission geht, löst das Weißbuch in den Ländern eine Diskussion über den weiteren Weg der Gemeinschaft aus. Und es soll die Regierungen dazu bringen, Stellung zu beziehen: Wohin wollen sie gehen, was erreichen? Es soll die Politiker "von den Balkonen" holen, von denen aus sie lediglich mehr oder weniger bissig die EU kommentieren, wie es in Kommissionskreisen heißt. Ob das gelingt, könnte sich schon beim Gipfeltreffen in Rom abzeichnen.
Was ist ein Weißbuch?
Unter einem Weißbuch (englisch: White Paper) wird in der Politik meist eine Dokumentation zum Vorgehen in bestimmten Bereichen verstanden. So hat die EU-Kommission beispielsweise Weißbücher mit Vorschlägen zur Vollendung des Binnenmarktes (1985) oder zum Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum (2011) veröffentlicht.