In Afghanistan läuft die größte Militäroffensive seit 2002. Gleichzeitig entsteht Einigkeit, dass der Konflikt im Land letztendlich nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Bei der Afghanistan-Konferenz in London einigten sich mehr als 70 Staaten und Organisation auf einen Fonds, um Taliban-Kämpfer und andere Aufständische, die die Waffen niederlegen, wieder einzugliedern. In Kombination mit einem Versöhnungsprozess könnte er ein wichtiges Instrument sein.
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Die meisten Aufständischen treibt wohl weniger ihre wirtschaftliche Lage an als ihre Ideologie, Verbitterung und ein Gefühl der Unterdrückung. Sie sind überzeugt, dass die Regierung korrupt ist, Recht und Ordnung nicht durchsetzen kann und die momentane Lage eine Art ausländische Invasion darstellt. Es ist nicht schwer, einem jungen Mann Arbeit zu beschaffen, aber es ist sehr schwer, seine Überzeugung zu ändern, sein Gefühl, erniedrigt und entfremdet zu sein.
Im Mittelpunkt eines politischen Prozesses stehen Akzeptanz und Respekt vor der afghanischen Verfassung. Der Aufstand darf das Land nicht wieder zurück in die dunklen 1990er führen. Wer sich aussöhnen will, muss das seit 2002 Erreichte respektieren und das Streben der Mehrheit nach Frieden und Wohlstand akzeptieren.
Ein politischer Prozess muss von den afghanischen Behörden gestaltet und angeführt werden, er kann nicht von ausländischen Zivilisten oder dem Militär durchgesetzt werden. Die internationale Gemeinschaft muss finanzielle und politische Hilfe leisten und die Regierung bei Bedarf unterstützen. Einen dramatischen Durchbruch über Nacht darf man sich nicht erwarten. Vielmehr bedarf es einer genauen Abstimmung der wichtigsten Akteure. Laute und öffentliche Aufforderungen, dass sich die Aufständischen am Versöhnungsprozess beteiligen sollen, werden auf Widerstand treffen. Vorsichtige diplomatische Initiativen können eher Erfolg haben. Fünf Taliban-Führer hat die UNO im Jänner von der Terrorliste gestrichen. Auch die Freilassung von Gefangenen ist ein Thema.
Dem müssen aber auch Taten der Aufständischen folgen. Ein erster Schritt wäre die Verpflichtung der Taliban, keine Gesundheitseinrichtungen und Schulen anzugreifen und humanitäre Hilfe zuzulassen. In seiner Erklärung nach der Londoner Konferenz erklärte der Taliban-Führer Mullah Omar, dass alle Afghanen Zugang zu Bildung erhalten sollten. Die Taliban sollten beweisen, dass sie es damit ernst meinen.
Präsident Hamid Karzai will nun eine Große Ratsversammlung für den Frieden einberufen. Diese soll landesweit Einigkeit über den politischen Prozess schaffen und die Führer religiöser und gesellschaftlicher Gruppen zur Versöhnung antreiben. Dabei muss die Zivilgesellschaft miteinbezogen werden - auch Frauengruppen -, damit die Rechte aller respektiert werden und die Versöhnung mancher nicht zulasten anderer ausfällt. Auch die Beteiligung der Nachbarstaaten, vor allem Pakistans, wird entscheidend für den Friedens- und Versöhnungsprozess sein.
Kai Eide war von März 2008 bis Februar 2010 UNO-Sonderbeauftragter in Afghanistan.