Zum Hauptinhalt springen

Zeit für die Hausaufgaben

Von Ernst Smole

Gastkommentare

Die bevorstehende EU-Präsidentschaft ab Juli 2018 könnte für die künftige Regierung ein guter Anlass sein, sich den dringenden Herausforderungen des Bildungssystems zu widmen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Vorwahlzeit. Bildungsdiskussion an der Fachhochschule Wels. Ein philosophisch-politisches Podium: Nachwuchsprobleme in technischen Fächern, Schwächen auch von Maturanten im Lesen, Schreiben und Rechnen, "Brückenkurse" an Unis für das Nachholen des AHS-Stoffes, eine "häppchen- und kompetenzorientierte" Zentralmatura à la U-Bahn-Zeitung, ein teils schulgemachter, Österreichs Prosperität behindernder Fachkräftemangel, der Zukunftschancen vermindert - die Finanzierung von Pflege, Kinderbetreuung, Pensionen, Digitalisierung, zukunftsfähiger Bildung. Wie konnte all dies so kommen?

Bis weit in die 1960er Jahre prägen Lehrer die Schulen, die in der NS-Zeit, die in den Schulzeugnissen Turnen als erstes und wichtigstes Fach positioniert hatte, sozialisiert worden sind. Nicht selten sind dies Problemlehrer - traumatisiert und kriegsversehrt, den "Zusammenhalt" der NS-Volksgemeinschaft beschwörend, Spott und Beschämung über Schwächere und Außenseiter ausgießend, "Vergasen, Selektion, Sonderbehandlung" gehören zum Unterrichtsvokabular.

Dann die Trendwende: Junge, aufgeklärte Lehrer, die die befreienden Ideen der 68er in die Schulen tragen, neue Ideen, große Visionen. "Büffeln & Pauken" ist out, kein stures Auswendiglernen mehr, sondern Selbstbewusstsein, Selbstbestimmtheit, Eigenverantwortung. Aber auch Kollateralschäden: Wesentliche Erkenntnisse der Lernpsychologie werden in der Euphorie ignoriert, das regelmäßige Üben - unverzichtbar für Erwerb und Sicherung der Grundkompetenzen - wird entsorgt.

Das Spektrum des Unterrichts erweitert sich - Tennis, Briefmarkensammeln, Orientierungslaufen, Zimmergewehrschießen und nahezu die gesamte Freizeit werden "schulisch". Das Wirtschaftswunder ermöglicht die Berufstätigkeit beider Elternteile - bejubelt gleichermaßen von Konservativen (Wirtschaftswachstum) und Linken (Selbstverwirklichung).

Staatlicher Wortbruch

Der Staat verspricht das schulisch-familiäre Paradies: "Liebe Eltern, ihr braucht euch um den Schulerfolg eurer Kinder nicht mehr zu kümmern - der Staat macht alles!" Ein Versprechen, das gebrochen wird: Trotz des anschwellenden schulischen Aufgaben-Tsunamis gibt es Stundenkürzungen, keine echten Ganztagesschulen, sondern eine bloße Aufbewahrung der Kinder - euphemistisch "Betreuung" genannt - an den Nachmittagen, kein Nachrüsten der Lehrerbildung für neue Erfordernisse wie die zunehmende Unterschiedlichkeit der Schüler, Deutsch als Fremdsprache, die für die Sicherung von Unterrichtserfolg und echter Schulfreude unverzichtbaren Unterrichts-, Kommunikations-, Beziehungs- und Motivationstechniken. Es fehlen ganztagstaugliche Schulbauten, ausreichende Werkplätze und Regenerationsräume für Lehrer, dafür herrscht teils zeitraubende, keinen Nutzen stiftende Bildungsbürokratie.

Bereits in den 1980ern weisen Studien auf die drohenden Defizite im Bereich des Lesens, Schreibens und Rechnens hin. In den 1990ern macht eine Unterrichtsministerin diese Bedenken öffentlich - sie wird schlicht für verrückt erklärt. Jene, die diese Entwicklung sehr wohl registrieren, hoffen auf die Selbstheilungskräfte des Systems Schule, das jedoch von einem Schulverwaltungsmoloch gelähmt wird. Dieser lässt die Entwicklung der erhofften Selbstheilungskräfte nicht zu, verhindert auf schulische Eigenverantwortung aufbauende, echte Autonomie und ist eigentlich für ein Volk von 66 Millionen Einwohnern ausgelegt - die k. & k. Monarchie lässt grüßen.

Die Bildungsreform (wenn sie denn so genannt werden kann) des heurigen Jahres verfestigt diese Hierarchiekaskade - Stichwort parteipolitisch besetzte Bildungsdirektionen"statt schulpraktisch hilfreicher, schlanker, parteipolitikfreier Koordinations- und Servicestellen in den Bundesländern beziehungsweise Regionen.

Dazu kommt eine Studie aus dem heurigen Jahr, laut der in Österreich heute 33 Prozent der bis 35-Jährigen nicht sagen können, ob die Zeit des Nationalsozialismus etwas Gutes oder etwas Schlechtes gewesen ist. Ein weiteres Mal ertönt der Ruf nach dem verpflichtenden Unterrichtsgegenstand "Politische Bildung". Doch ist diese ohne ausreichende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen - Defizite, die bis zu 40 Prozent der 15-Jährigen betreffen - überhaupt sinnvoll? Nein.

Ein europäisches Problem

Das Wissen, wie diese Probleme in den Griff zu bekommen wären - dass über das Gelingen von Schule zu rund 90 Prozent das individuelle, autonome Tun der Lehrer vor der Klasse entscheidet und die Fortbildung der im Beruf stehenden Pädagogen weit bedeutender ist als die formale Lehrerbildung -, ist vorhanden und wird auch seit Jahren von allen Printmedien kommuniziert, von manchen Vorbildschulen beeindruckend vorgezeigt und in Parlamentsausschüssen von Fachleuten aus Wissenschaft und Schulpraxis den Volksvertretern und den Regierenden auf oft drastische Weise nahegebracht.

Österreich ist mit seinen Bildungsproblemen in Europa nicht allein. Nicht nur Staaten in Südeuropa, auch vom Bildungserfolg verwöhnte Länder in Skandinavien beklagen zunehmend Leistungsverluste ihrer Schulsysteme. Österreich sah sich einst nicht ganz zu Unrecht als kulturelles Zentrum des Kontinents. Unsere kleine und daher überschaubare Heimat sollte sich auf diese Tradition besinnen und zu einem europäischen Labor für die gelingende Schule von morgen werden.

Österreichs bevorstehende EU-Präsidentschaft wäre dafür eine ideale Startrampe. Das nötige Wissen, die Erfahrung (punktuelles Best-Practice-Modelle) und der Durchblick dafür sind vorhanden - jetzt müssen lediglich die notwendigen Taten folgen. Setzen wir sie - ohne Verzögerung, denn Juli 2018 ist morgen!