Der "Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung" der EU ist ein zu wenig beachteter Meilenstein. Die Idee einer Europäischen Politischen Gemeinschaft sollte intensiver verfolgt werden.
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Nicht zuletzt die durch den Ukraine-Krieg veränderte Sicherheitslage spricht dafür, dass die Europäische Union neue Partnerschaften mit ihren europäischen Nachbarn braucht, die positiv besetzt, pragmatisch und flexibel sind. Es muss mehr getan werden, als langwierige und asymmetrische Beitrittsprozesse zu eröffnen. Das Resultat einer sicherheitspolitischen Initiative Deutschlands sowie die jüngste Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron kommen hier gerade recht.
Die Europäische Union versteht sich vorrangig auch als Friedensprojekt. Die Entwicklung einer sicherheitspolitischen Union und die sicherheitspolitische Positionierung gegenüber strategischen Rivalen sind dagegen über die vergangenen Jahre zu wenig beachtet worden. Das im heurigen Frühjahr von allen EU-Mitgliedstaaten beschlossene Strategiepapier "Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung" geht auf eine Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 zurück und könnte diese Lücke schließen. Es formuliert Ziele, Instrumente und Vorhaben für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik aller 27 EU-Staaten.
Der "Strategische Kompass" stützt sich auf vier Bereiche: Krisenmanagement, Resilienz, Fähigkeiten sowie das Konzept multilateraler und bilateraler Partnerschaften, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Im Sinne dieser Partnerschaften wird mit den östlichen Nachbarstaaten nicht nur eine spezifische Zusammenarbeit in den Bereichen hybride Bedrohungen, Desinformation und Cybersicherheit diskutiert, sondern es werden ganz allgemein die gemeinsamen Werte und Interessen betont, die die Grundlage für maßgeschneiderte Partnerschaften sein sollen.
Nachbarschaftsverhältnisse in ewigen Beitrittsmühlen
Tatsächlich sorgt die EU bei ihren europäischen Nachbarn zu oft für blanke Konsternation, etwa durch mangelhaftes Erwartungsmanagement, wenn es um den EU-Beitrittsprozess geht. Besonders deutlich wird das am westlichen Balkan, wo es mit Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien sechs grundsätzlich an einer EU-Mitgliedschaft interessierte Länder gibt. Trotz pro-europäischer Bekenntnisse stagniert der Beitrittsprozess bei vier der sechs Länder seit Jahren oder gar Jahrzehnten: Albanien und Nordmazedonien haben einen gefestigten europäischen Weg eingeschlagen, warten aber trotz zuerkanntem Kandidatenstatus seit Jahren (Albanien seit 2014, Nordmazedonien sogar seit 2005) auf den Beginn echter Aufnahmeverhandlungen mit der EU.
Montenegro und Serbien haben diese Hürde bereits genommen, sind aber noch meilenweit von einer Mitgliedschaft entfernt: Montenegro verhandelt seit 2012 und hat bis heute erst 3 der erforderlichen 33 Verhandlungskapitel provisorisch abgeschlossen, während Serbien, das seit 2014 verhandelt, bisher 2 der 33 Kapitel abschließen konnte. Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben noch keinen Kandidatenstatus erlangt und gelten als potenzielle Kandidatenländer, ebenso wie Georgien, das Teil der östlichen Partnerschaft der EU ist.
Die schwer gebeutelte Ukraine und die Republik Moldau haben ihren Kandidatenstatus Ende Juni erhalten. Aber auch hier gilt es von einem eher symbolischen Schritt in ein zeit- und zielgebundenes gemeinsames Handeln zu kommen. Es ist jedoch ein ähnliches Zeitfenster wie am Westbalkan zu erwarten, nämlich von Jahren bis Jahrzehnten. Trotz Krieg und damit verbundenen einzelnen Forderungen nach einem "beschleunigten Aufnahmeverfahren" hat die Europäische Union im Fall der Ukraine auch bereits mehrfach bekräftigt, ihre Verfahren für den EU-Beitrittsprozess nicht verändern zu wollen. Kroatien als jüngstes Mitgliedsland hat von 2004 bis 2013 warten müssen, um in die Union einzutreten. Für die Ukraine und die Republik Moldau gehen Experten von definitiv längeren Zeiträumen aus.
Derart langwierige Prozesse spiegeln zwei Dinge wider: den immensen Reformbedarf, der auch nach dem Erhalt des Kandidatenstatus in den Ländern immer noch aufzuarbeiten ist, und die Entschlossenheit der EU, bei diesem Reformbedarf kein Auge zuzudrücken, selbst wenn dies Dekaden dauert. Das anfänglich euphorische Verhältnis zueinander wird auf Dauer immer mehr vom noch nicht Erreichten beim Beitrittsprozess dominiert und führt zu einer Degradierung der Partnerländer zu Bittstellern. Als logische Konsequenz geht die Leidenschaft für die gesamteuropäische Idee immer mehr verloren, und die Staaten driften zusehends in alternative Einflusssphären ab. Letztendlich büßt die EU ihren Einfluss in geostrategisch und sicherheitspolitisch wichtigen Regionen damit ein.
Macrons Botschaft an Franzosen und Ukrainer
Frankreichs Präsident Macron hat nun einen Vorschlag gemacht, der die entstandene Distanz der EU zu ihren östlichen Partnerländern wieder aufheben könnte. Es geht um die Idee einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Tschechien, das die EU-Ratspräsidentschaft mit 1. Juli übernommen hat, führt diesen Entwurf bereits aktiv weiter. Es ist kein Zufall, dass der französische Präsident diese Idee am 9. Mai, am Europatag, in einer Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg und damit kurz nach seiner Wiederwahl für eine zweite Amtszeit zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt hat.
Präsident Macron möchte seinen Ruf als ambitionierter Erneuerer des europäischen Projektes weiter festigen und stand gleichzeitig auf der Bremse, was einen Kandidatenstatus für die Ukraine betraf. Mit der Europäischen Politischen Gemeinschaft wahrt Macron sein Gesicht nicht nur gegenüber den traditionell erweiterungsskeptischen Franzosen, die diese als Alternative zu einem vorschnellen EU-Beitritt für die Ukraine verstehen dürften, als auch gegenüber den Ukrainern selbst, die nach Wegen für eine tiefere europäische Integration suchen.
Gemäß Macron soll die EPG eine intensive bilaterale Kooperation zwischen der EU und dem assoziierten Trio aus der östlichen Partnerschaft, nämlich der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau, in den Sektoren Verkehr, Energie, Wirtschaft und Sicherheitspolitik ermöglichen. Die Wortwahl dieses neuen Kooperationsrahmens ist dabei ganz bewusst, soll doch dieser im Gegensatz zu den sonst rein technischen Instrumenten zwischen der EU und der Region auch eine klare politische Charakteristik haben. Vielfach bleibt der genaue Inhalt der EPG noch vage und Gegenstand von Interpretation, folgende Pfeiler scheinen sich laut Beobachtern bis jetzt aber herauszukristallisieren und werden sicherlich auch von der tschechischen Ratspräsidentschaft weiter konkretisiert werden:
Aufbau auf den bestehenden vertieften Freihandelsabkommen mit den drei Ländern durch die schrittweise Übernahme des gemeinsamen europäischen Rechtsbestandes zum Binnenmarkt.
Integration der drei Länder in bestehende EU-Programme, darunter jene zum Green Deal, zur digitalen Transformation und zu Wissenschaft und Forschung (Horizon Europe).
Einbindung der drei Länder in die Strukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
Errichtung eines maßgeschneiderten finanziellen Fonds zur Unterstützung der drei Länder hinsichtlich der ersten drei Punkte sowie Etablierung eines Monitoring-Mechanismus zur Beurteilung des Fortschritts
Gemeinsame Interessen aufzugreifen und vertiefen
Um diese Pläne gemeinsam mit der EU realisieren zu können, braucht es aufseiten des Assoziationstrios mittel- und langfristig nicht nur eine funktionierende Marktwirtschaft, eine staatliche Gewaltenteilung demokratischer Natur und eine leistungsfähige Verwaltung (Ziele, die in den bestehenden Assoziierungsabkommen ohnehin bereits enthalten sind) sondern wahrscheinlich auch neuartige Strukturen, die auf die Natur der EPG als "gemeinsamer und gleichwertiger Rahmen für alle drei Länder" abgestimmt sind - wie etwa die Errichtung eines gemeinsamen Sekretariates, das für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau als EPG-Trio gleichermaßen tätig werden kann.
Die Philosophie der EPG lässt sich sogar viel universeller anwenden, sowohl in geografischer als auch in thematischer Hinsicht: Alle europäischen Länder außerhalb der EU haben gemeinsame Interessen mit der EU, sei es in den Bereichen Außenpolitik, Rechtssystem, Wirtschaftspolitik, Bildung und Wissenschaft, Klima oder Energie und Transport. Diese gemeinsamen Interessen gilt es im Rahmen von Kooperationen zum beidseitigen Nutzen aufzugreifen und zu vertiefen. Die EPG sollte also nicht nur unsere drei östlichen Nachbarn, die ihre Zukunft innerhalb der europäischen Familie sehen, sondern auch Länder wie Großbritannien, Dänemark oder die Schweiz einschließen, wo das Image der EU in langen Jahren bilateraler Verhandlungen gelitten hat.
Auch wenn es zu früh ist, über die realistische Implementierung dieser neuen und im Inhalt wohlklingenden Idee zu urteilen, und vieles von den Diskussionen der nächsten sechs Monate unter tschechischer Federführung abhängen wird, ließe sich eines aus heutiger Sicht schon sagen: Die EPG könnte es schaffen, das Beste aus zwei Welten zu vereinen, indem sie alle 33 Themenkapitel für flexible Kooperationen eröffnet, die auch Gegenstand des offiziellen Beitrittsprozesses sind, jedoch im Gegensatz zum Beitrittsverlauf nicht voraussetzt, dass auch alle tatsächlich aufgegriffen werden. Ein Offert, das es seitens der EU so noch nicht gegeben hat.