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Zeit zum Aufwachen

Von Wolfgang Glass

Gastkommentare

Das Gefühl der Rundumabsicherung hat unsere Gesellschaften eingelullt. Corona ist der Vorbote für das, was noch kommt.


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In den vergangenen Jahrzehnten schlummerten die westlichen Gesellschaften im Gefühl der Rundumabsicherung. Gegen jedes Risiko, schien es, gäbe es Versicherungen. Dass der Kluge vorsorgt (monetär und gesundheitlich), Rückstellungen bildet und diversifiziert, mag bekannt sein, aber sicher nicht "in". Es ist nämlich echt mühsam, sich um sich selbst zu kümmern, statt so zu tun, als würde man sich um die ganze Welt kümmern wollen. So ist die Corona-Pandemie eher ein Brandbeschleuniger denn ein Schwarzer Schwan, also ein unvorhersehbares Ereignis mit massiven Auswirkungen. Corona ist der Vorbote davon, was uns in den nächsten Jahrzehnten erwartet. Dass wir nach wie vor glauben, das Virus könne in jedem Land separat besiegt werden, ist irre. Die Pandemie ist erst vorbei, wenn das Virus überall erfolgreich bekämpft ist - eine Impfung, deren langfristige Folgen auch abschätzbar sind, ist nicht in Sicht; mit Aids und Malaria lernten wir auch ohne Impfung zu leben.

Nur mit staatsübergreifenden Methoden und solidarischem Handeln können Pandemien wie Klimaerwärmungen oder Massenmigration angegangen werden. Davon sind wir weit entfernt. Solidarität? Am Umgang mit der Tierwelt sieht man, wie verlogen wir als Gesellschaft sind. So scheinsolidarisch wir uns gegenüber der Supermarktkassierin geben, so sehr dulden wir Tierfabriken und Massentransporte in Riesen-Schlachthöfe für unsere Lebensmittel, von denen ein Drittel wieder im Müll landet. Aber gut, wir als Homo sapiens gelten ja als Krone Schöpfung.

Die Gefahr war bekannt

Alle, die wissen mussten, dass es zu einer Krise wie der aktuellen jederzeit kommen konnte, wussten es: Ministerien/Regierungen, Epidemologen, Virologen. Genauso wie man weiß, dass wir zu viel essen und uns zu wenig bewegen. Der Politik ist somit nur vorzuwerfen, dass kein Diskurs mit dem Volk darüber stattfand. So standen wir alle natürlich unter Schock. Katastrophen trafen ja bisher nur die anderen. Nur Wachstum und Hedonismus schienen (zumindest für die Mehrheit) Bestand zu haben. Manche verharrten in Schockstarre und sammelten sich mit vorauseilendem Gehorsam hinter der Politik, die zwar spät, aber dann doch vehement reagierte und das China-Modell des Shutdown übernahmen. Andere igelten sich zu Hause ein, steckten den Kopf in den Sand oder setzten auf Alkohol und Tabletten.

Manche versuchten tatsächlich die Krise als Chance für Veränderungen anzunehmen - aber das ist eben sauschwer, denn wir haben alle unsere Methoden, unangenehmen Wahrheiten so lange aus dem Weg zu gehen, bis wir mit der Nase darauf gestoßen werden. Manchmal reicht ein Arztattest, eine Kündigung oder halt Corona. Diese Pandemie ist aber eben nicht die einzige. Da gibt es die Diabetes-Typ-2-Pandemie, die Opium-Epidemie in den USA (staatlich gestützt und von der Pharmaindustrie gepusht, starben in den vergangenen vier Jahren 200.000 Menschen - in West Virginia veröden ganze Städte), die Bewegungsmangel-Pandemie, die Alkoholiker und Tablettensüchtigen, die schon in der Früh beeinträchtigt in der Arbeit erscheinen, aber eben nicht offensichtlich.

Eigenkompetenz stärken

Die Zukunft ist einer diffusen Dunkelheit gewichen, und was heute als gut gilt, könnte morgen als schlecht gelten. Vielleicht macht auch der Begriff Zukunft gar keinen Sinn, weil wir aus der Gegenwart gar nicht mehr herauskommen. Nur geistige Beweglichkeit macht selbständige Bewertungen möglich und schafft Unabhängigkeit. Doch die Eigenkompetenz braucht bestimmte Voraussetzungen. Lebenslanges Lernen könnte den Umgang mit Unsicherheiten wesentlich verbessern. Doch funktioniert das mit einem Schulsystem mit Lehrern, die meist ihr ganzes Leben lang nicht aus der Schule herauskommen, und einer Lehrergewerkschaft, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Pfründe zwecks Machterhaltung zu verteidigen, statt jungen Menschen ein sinnvolles Rüstzeug zu eigenverantwortlichem Handeln und Denken mitzugeben?

"Man müsste einmal . . ."

Die existenzielle Langeweile während der Quarantäne zeigt die Freiheit des Menschen als Herausforderung. Die Aufrufe sind schon wieder da: "Kaufen Sie, um die Wirtschaft wiederzubeleben!" Der moralische Anspruch ist der gleiche wie vor der Krise, als es Verzichtsappelle zum Klimaschutz gab. Wem langweilig ist, der hat keine Fähigkeit zur Distanz, zum Abstand von der Welt und ihren Phänomenen, besonders aber zum Abstand von sich selbst. Mit den ersten Lockerungen sorgt sich auch wieder die Bedürfnisindustrie um uns und lenkt uns vom faden Leben ab, mit Disco, Massenevents, Shopping-Tempeln, Reisen bis ans Ende der Welt (Hauptsache weit weg).

Viele leben unter ihren Möglichkeiten, weil sie an alten Überzeugungen festhalten. Es geht nicht darum, mehr aus dem Leben zu machen, sondern das zu finden, was auch noch ansteht. Findet man sein Heil in ständiger Addition, ist es eh gut - oder man sucht die Störquelle und eröffnet sich dadurch neue Perspektiven für Wünsche und Visionen. Natürlich muss man sich Moral auch leisten können, was nicht immer gleich monetär sein muss. Es reicht oft schon, Veränderungen gedanklich anzugehen, statt immer nur von "Man müsste einmal . . ." zu reden.

Auf die Politik sollte man sich nicht verlassen. Schon als Kleinunternehmer braucht man einen Steuerberater, weil man nicht mehr durchblickt. Der "Österreich-Konvent" sieht substanziellen Reformbedarf, es gibt viele unnötige gut dotierte Jobs in der aufgeblähten Sozialbürokratenverwaltung, manche werden unter der Hand vergeben. All das ist bekannt - geändert wird aber wenig bis nichts, Maßnahmen/Änderungen sind meist nur oberflächlich. Aber persönlich kann jeder viel tun. Man könnte vorab einmal bei sich selbst testen, ob man überhaupt zu substanziellen Änderungen fähig ist. Und erst dann retten wir den Rest der Welt.