Das Warten ist ein unvermeidlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, doch es wird in unserer restlos durchgetakteten Zeit offensichtlich immer schwerer ertragen. Dabei könnte die Geduld auch eine Tugend sein.
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Die Choreographie des Wartens könnte nicht unterschiedlicher sein: Auf der einen Seite Harry-Potter-Fans, die sehnsüchtig und in fröhlicher Verkleidung ganze Nächte auf den gerade aktuellsten Band der Fantasy-Saga warten, oder Anbeter des Computerherstellers Apple, die stundenlang geduldig in einer Endlosschlange ausharren, um das neueste iPad oder iPhone zu ergattern. Auf der anderen Seite das alltägliche Warten etwa an der Supermarktkasse, bei dem offenbar viele (und besonders gerne Menschen, die den sogenannten Ruhestand genießen) bereits Wartezeiten von gefühlten zwei Minuten als unerträgliche Zumutung empfinden und sogleich krähen: "Zweite Kasse bitte!"
Die Kunst der Geduld
Es gibt unendlich viele Schauplätze des Wartens, die uns im Alltag immer wieder aufs Neue zu Zwischenstopps zwingen. Wir verbringen beim Arztbesuch durchschnittlich 27 Minuten im Wartezimmer, Millionen Pendler stehen regelmäßig im Stau, wir warten auf Anrufe und Mails oder darauf, dass ein Schmerz endlich nachlässt. Im Grunde könnten wir also Profis für diesen Zustand sein, Profis dieses Warte-Raums, der uns zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht festhält. Schließlich üben wir uns doch bereits von Kindesbeinen an in der Kunst der Selbstdisziplin, also dem Erlernen von Geduld.
Selbst Kinder müssen nicht gleich übers Essen herfallen, wenn sie wissen, dass in absehbarer Zeit Besseres winkt. Das belegt der legendäre Marshmallow-Test des US-Psychologen Walter Mischel, bei dem Anfang der siebziger Jahre mehr als 500 Kinder zwischen vier und fünf Jahren allein mit der schneeweißen oder pastellfarbenen Süßigkeit in einem Raum zurückgelassen wurden. Vorher wurde ihnen mitgeteilt, dass der Versuchsleiter spätestens nach 15 Minuten zurückkehren würde. Sollte es ihnen bis dahin gelungen sein, den Zuckerspeck unberührt zu lassen, würden sie zur Belohnung noch einen zweiten erhalten. Tatsächlich widerstand ein Teil der Kinder der Verlockung, und zwar indem sie sich mit Ablenkungsstrategien behalfen. Manche hielten sich die Augen zu, andere begannen, Lieder zu singen, um die Wartezeit zu überstehen. Bei Nachbeobachtungen 15 Jahre später fand Mischel heraus: Je länger die Kinder im ursprünglichen Experiment gewartet hatten, umso mehr hatten sie später schulischen Erfolg, erzielten sie höhere Werte im Bereich soziale Kompetenz und konnten sie darüber hinaus Frustrationen besser ertragen.
Bedürfnisaufschub
Auch jenseits von zentralen Bedürfnissen wie der Essenszufuhr lernt "der Mensch in mannigfaltigen Lebenssituationen den Bedürfnisaufschub", schreibt der Psychologe und Humanbiologe Marc Wittmann in seinem Buch "Gefühlte Zeit". Menschen aber, die sich mit dem Aufschieben von Belohnungen schwer tun und lieber die bescheidenere Instant-Belohnung wählen, besitzen demnach einen kleineren Zeithorizont, der hauptsächlich in der Gegenwart angesiedelt ist und aus ihnen "zeitlich Kurzsichtige" macht, wie Wittmann das nennt. Eine gewisse Gegenwartsorientierung sei aber bei allen Menschen zu verzeichnen.
Zeitwahrnehmung ist bei Ereignissen, die uns konkret im Hier und Jetzt betreffen, mit Gefühlen verknüpft, während Geschehnisse, die noch fern und abstrakt irgendwo am zeitlichen Horizont liegen, uns gefühlsmäßig häufig weniger tangieren. Warten ist subjektive Zeit, Warten ist vor allem gefühlte Zeit, es ist ein "seelischer Zustand", konstatieren die beiden schwedischen Ethnologen Billy Ehn und Orvar Löfgren. Und in dieser Geistesverfassung sind wir hinsichtlich unseres Gespürs für die Zeitdauer sehr anfällig für Fehlersignale.
Dem Zeitforscher Wittmann zufolge haben wir lediglich einen recht präzisen Zeitsinn für die Dauer von drei Sekunden. Ab einer Zeitdauer oberhalb dieses 3-Sekunden-Wertes komme es "zu auffallenden Abweichungen zwischen objektiver und subjektiver Zeitwahrnehmung".
Kulturelle Unterschiede
Zudem ist unser Zeitsinn sehr stark kulturell geprägt. Je nachdem, in welchem Teil der Welt wir aufgewachsen sind, kann sich der Umgang mit Zeitplänen, Pünktlichkeit und dem Warten erheblich unterscheiden. Deutsche, Schweizer und Österreicher - Letztere allerdings in leicht abgemilderter Form - sind bei Südeuropäern für ihre Zeitfixierung und Pünktlichkeitsobsession verschrien, während wir die Mittelmeervölker gern als sympathische Chaoten belächeln. Laut dem "Handbuch internationale Kompetenz" des britischen Managementberaters Richard D. Lewis gehören wir Mitteleuropäer in der Tat zur Gruppe der von Zeitplänen und Terminkalendern beherrschten "Linear-Aktiven". Spanier, Italiener und Griechen hingegen zählen zu den "multi-aktiven" Kulturen, die sich mit einer eher groben Zeitplanung wohlfühlen.
Für Gianluigi Brandelli, der für eine große italienische Bank in München tätig ist, macht sich dieses unterschiedliche Zeitverständnis insbesondere im "Vereinbarungsprozess" privater Verabredungen bemerkbar. Völlig normal ist es demnach in Italien, sich mit diffusen Aussagen wie "Wir könnten uns zum Beispiel am Sonntag treffen" zu verabreden. Habe man schließlich am Tag x etwas Besseres vor, erklärt der 41-jährige Italiener, sei das völlig in Ordnung. Als schockierend empfindet es der Banker, dass es zum Beispiel Deutschen gelingt, private Treffen zum Teil Monate im Voraus zu vereinbaren, ohne einen "reminder" dafür zu benötigen. Brandelli, der mit einer Deutschen verheiratet ist, hat jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass sich Mitteleuropäer "mit Ungewissheit sehr schwer tun".
Nun ist der Fluss des Vorhersagbaren gerade im Zustand des Wartens unterbrochen - einem Zustand, der von außen häufig nur mittelbar erkennbar ist, über nonverbale Gestik und Mimik wie das unruhige Wippen der Füße, das nervöse Trommeln der Fingerkuppen oder auch den unstet umherwandernden Blick. Nicht sichtbar für den Außenstehenden, jedoch für den Betroffenen sogar körperlich spürbar kann sich ein Gefühl der Hilflosigkeit einstellen, das sich für die Autorin Andrea Köhler auch physisch fassen lässt: "Beim Warten tut etwas weh. Etwas krampft sich in einer bestimmten Körperregion zusammen, es zieht wie ein Luftsog zwischen zwei fahrlässig offen gelassenen Türen."
Folglich können regelrecht explosive Situationen entstehen, wenn sich zum emotionalen Zustand des Wartens der Faktor Macht hinzugesellt. Wer warten lassen kann, hat Macht, "es ist eine simple und effektive Demonstration der eigenen Überlegenheit", heißt es in dem Band "Nichtstun" der Autoren Ehn und Löfgren, in dem sie unter anderem erkunden, was Menschen tun, wenn sie geduldig oder wütend warten.
Je stärker der Zugang zu Führungskräften und Vorständen über Vorzimmer und Termine geregelt ist, desto wichtiger sind sie. Zu denjenigen, die gern warten lassen und ihre real nicht wirklich existierende Macht subjektiv sehr effektiv ausspielen, zählen zum Beispiel Bürokraten. Im Antragsteller, der ohnehin schon den Frust über die vergeudete Zeit verarbeiten muss, steigen häufig Gefühle von Groll und Ohnmacht über die demütigende Behandlung auf, die ihm auf Ämtern oder in Kundencentern zuteil wird.
Aggressive Kunden
Laut der Studie "Konflikt-Monitor 2012" der Hochschule Darmstadt hat die Aggressivität im Kundenkontakt tatsächlich deutlich zugenommen. Bei dieser bundesweit einmaligen Studie wurde in 144 Fragebögen ausgewertet, wie in den Dienstleistungsunternehmen Konfliktsituationen erlebt werden. Hatten 2008 noch 15 Prozent der Befragten angegeben, sie seien häufig beschimpft worden, so waren es vier Jahre später schon 19 Prozent. Besonders betroffen sind demnach Servicebereiche. Als mögliche Konsequenz schließen deshalb immer mehr Firmen nicht aus, Kundenkontakte zumindest einzuschränken.
Doch auch andere soziale Beziehungen werden durch Warten und Machtspiele geprägt, zumal dann, wenn wir Liebende sind. "In der Liebe entfaltet das Warten eine Dynamik, die in die Tiefe der Existenz reicht", schreibt Andrea Köhler in ihrem Essay "Lange Weile". Es kann sogar das ganze Sein in Beschlag nehmen, wie im 1999 erschienenen Roman "Warten" des chinesischen Autors Ha Jin. Der Protagonist des Buches, Lin Kong, der als Arzt in einem chinesischen Militärkrankenhaus arbeitet, verliebt sich in Manna Wu, eine Krankenschwester, die im selben Hospital wie er tätig ist. Doch die beiden sind gezwungen, ihre Liebe geheim zu halten, da die Obrigkeit dem bereits gebundenen Arzt die Scheidung von seiner ungeliebten Frau Shuyu nicht gestattet. Jahr für Jahr tritt Lin Kong nun mit seiner Frau Shuyu vor den Richter, jedes Mal verweigert sie ihm das Ja zur Trennung.
Lin Kong geduldet sich tatsächlich fast 20 Jahre, bis er seine Geliebte endlich zur Frau nehmen darf. Doch im Laufe der Jahre ist die Liebe zwischen Lin Kong und Manna Wu immer mehr zum Machtspiel verkommen: Wer von beiden hat mehr gewartet? Sie hat das lange Warten zu einem verbitterten und fauchenden Wesen gemacht, während es für ihn unversehens zur Lebensform geraten ist. "Zeit beweist gar nichts (. . .) du hast dieses Gefühl für Liebe gehalten, weil du nämlich gar nicht wusstest, was Liebe ist. Du hast 18 Jahre lang nur um des Wartens willen gewartet."
Solch lange Perioden des Wartens auf sich zu nehmen wie der Romanheld Lin Kong, wenn auch letztlich aus Passivität, oder wie etwa in der DDR, wo man gewöhnlich mehrere Jahre lang auf ein Auto oder auf einen Telefonanschluss warten musste, erscheint in der heutigen durchgetakteten, kurzatmigen Gesellschaft unvorstellbar. Schon die geringste Wiederholung wird offenbar von vielen als Monotonie empfunden, als leere Zeit, die gefüllt sein muss. Gerade die alltäglichen Routinen lassen Langeweile aufkommen, "in einem negativen Sinn die gefühlte Nähe der Zeit, die nicht vergehen will. Langeweile ist das unmittelbare Gewahrwerden seiner selbst als in der Zeit gefangen", schreibt der Psychologe Wittmann.
Den schwedischen Forschern Ehn und Löfgren erzählten bei ihren Umfragen unter Studenten überraschenderweise viele Frauen und Männer, dass sie sich bei ihren als eintönig erlebten Alltagsroutinen mit geheimen Wettkämpfen aller Art stimulierten. "Ich vergebe für fast alles, was ich tue, Punkte - ob ich aufräume, koche, arbeite, Geld verdiene, eine Wohnung nach der besten Aussicht wähle, Ordnung in meinen Fotoalben halte, andere Länder aufsuche oder Sport treibe." Das Eingeständnis dieses Konkurrenzdenkens war vielen zunächst peinlich, bis sie feststellten, dass andere ebenfalls tagtäglich solche Wettbewerbe mit sich oder ahnungslosen Konkurrenten abhielten. Laut Ehn und Löfgren sind sie damit sogar Teil einer breiten Bewegung, die ihren schnöden Alltag auf diese Weise "ritualisiert und dramatisiert".
Ertragen wir es also schlicht nicht mehr, wenn scheinbar nichts oder wenigstens nichts Aufregendes geschieht und die Zeit uns unangenehm nah auf den Pelz rückt? Nach Ansicht des Philosophen Byung-Chul Han erfüllt uns die Zeit tatsächlich nicht mehr, da sie an Dauer, an Langem und Langsamem verloren habe. Über den Menschen im digitalen Zeitalter befand der 50-Jährige gebürtige Südkoreaner kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift "Philosophie Magazin": "Das Digitale infantilisiert uns, weil wir nicht mehr warten können." In "Duft der Zeit", einem Essay über die "Kunst des Verweilens" heißt es: "Die Lebenszeit wird nicht mehr durch Abschnitte, Abschlüsse, Schwellen und Übergänge gegliedert. Vielmehr eilt man von einer Gegenwart zur nächsten."
Sinnvolle Wartezeit
Was tun angesichts derartiger Diagnosen? Vielleicht genügt es, wenn wir zeitlich Kurzsichtigen den Blick auf die erfreulicheren Seiten des Wartens richten, unseren Zeithorizont eben nicht nur auf den gefühlten und als wertlos empfundenen Moment des Wartens beschränken. Andrea Köhler empfiehlt, die Frist des Wartens mit einem Ziel zu verknüpfen, "indem wir versuchen, der Zeit unsere eigene Dramaturgie aufzuzwingen". Dann gelinge "es uns womöglich sogar, uns aufs Ende des Wartens zu freuen". Auch wenn wir dabei vermutlich weder reich noch sexy werden, wie es die amerikanische Autorin Eleanor Rowe in ihrem leicht skurrilen Ratgeber "How to get rich, powerful, healthy and sexy while you wait" verspricht.
Die frühere Investmentbankerin Sally Casley hat aus dem Warten sogar eine Profession gemacht. Bei ihrem neu gegründeten Service "Waiting.in" springen die Britin bzw. ihre Angestellten als Warte-Ersatz ein. Nie mehr Schlange stehen, nie mehr warten auf den Klempner, stattdessen warten lassen - eine verlockende Aussicht.
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin und Coach. Sie lebt in München. Buchpublikation (mit Andreas Wirthensohn): "Keine Zeit zum Älterwerden. 16 Porträts von aktiven Menschen" (Knesebeck, München 2009).
Literatur:Marc Wittmann, "Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens", C.H.Beck, München 2012.Billy Ehn/Orvar Löfgren, "Nichtstun. Eine Kulturanalyse des Ereignislosen und Flüchtigen", aus dem Englischen von Michael Adrian, Hamburger Edition, Hamburg 2012.Ha Jin, "Warten", aus dem Englischen von Susanne Hornfeck, dtv, München 2004.Andrea Köhler, "Lange Weile. Über das Warten", Insel-Verlag, Frankfurt und Berlin 2007.Eleanor Rowe, "How to get rich, powerful, healthy and sexy while you wait", Selbstverlag 2012.