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Lage wie nach Lehman, Kreditklemme droht - erstmals geringere Mindestreserve.
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Frankfurt/Wien. Die Wachstumskurve ist auf Sinkflug - und die Europäische Zentralbank (EZB) spannt einen mächtigen Fallschirm auf, um den Aufprall abzumildern. Die Notenbanker in Frankfurt haben ihre Prognose für 2012 massiv nach unten revidiert. Sie erwarten für die Eurozone schlimmstenfalls sogar eine leichte Rezession bis zu minus 0,4 Prozent und haben prompt reagiert: Die Währungshüter beschlossen am Donnerstag, den wichtigsten Zinssatz abermals um 0,25 Prozentpunkte auf das frühere Rekordtief von 1,0 Prozent zu senken. Das soll die Kreditvergabe ankurbeln und das Wachstum stimulieren. Die - von den Experten erwartete - Entscheidung fiel nicht einstimmig aus. EZB-Chef Mario Draghi berichtete nach dem Beschluss von lebhaften Diskussionen. Dabei sei es aber nicht um die Zinssenkung, sondern um den Zeitpunkt gegangen.
Gefahr einer Kreditklemme
Ob der Zinsschritt tatsächlich die Wirtschaft stimuliert, ist strittig: Dem EZB-Schritt wird aber eine wichtige psychologische Funktion beigemessen, denn realwirtschaftlich wirken sich Zinssenkungen erst mit einer Verzögerung von gut einem halben Jahr aus. Überdies steht die EZB vor dem Problem, dass das viele billige Geld nicht im Finanzkreislauf ankommt: Die Lage sei ähnlich wie nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers im Herbst 2008. Auch jetzt drohe das Bankengeschäft auszutrocknen - und das, obwohl die Zentralbanken enorme Geldspritzen bereitstellen.
"Die Liquidität zirkuliert nicht", räumte Draghi ein. Die Banken legen Geld, das sie von der Zentralbank erhalten, nämlich umgehend wieder auf deren Depots und nehmen dafür sogar schlechte Konditionen in Kauf, weil sie fürchten, das Geld könnte anderweitig verloren gehen. Noch zeichne sich keine Kreditklemme für Private und Firmen ab, sie könne aber nicht ausgeschlossen werden, so Draghi. Inflation ist mittelfristig keine Sorge der Notenbanker, Deflation - also die Gefahr einer schädlichen Abwärtsspirale der Preise - halten sie für nicht sehr wahrscheinlich.
Rettungsleine für Banken
Der EZB-Chef nannte vor allem zwei Bedrohungen: die Probleme mit europäischen Staatsanleihen und den schlechten Zustand der Banken. Deshalb hat die EZB drastische Schritte angekündigt: Sie wirft maroden Banken in der Eurozone eine dicke Rettungsleine hin und nimmt dafür in Kauf, selbst zusehends zu einer "Bad Bank" zu werden, das heißt, risikobehaftete Papiere in die eigene Bilanz zu übernehmen. Weil einige Banken offenbar nicht mehr über ausreichend werthaltige Papiere verfügen, die sie bei der Zentralbank im Gegenzug für Kredite als Sicherheit hinterlegen können, senken die Währungshüter dafür erneut die Anforderungen.
Zudem können sich Banken künftig für den extrem langen Zeitraum von drei Jahren mit Zentralbank-Geld eindecken. Das erleichtert ihnen die fristenkonforme Planung von Kreditgeschäften - die geldpolitische Feinsteuerung der EZB wird dadurch hingegen komplizierter.
Der Geldhahn für die Banken bleibt nicht zuletzt weit offen, weil diese bald gewaltige Summen aufbringen müssen: Allein im Frühjahr 2012 stehen laut Draghi 230 Milliarden Euro an Bankanleihen zur Rückzahlung oder Refinanzierung an.
Für Jubel sorgte die überraschende Ankündigung, dass die Zentralbank erstmals seit ihrer Gründung 1999 die Mindestreserve halbieren wird: Banken müssen nur noch 1 Prozent ihrer Einlagen bei der EZB parken. "Dadurch werden über den Daumen gut 100 Milliarden Euro für die Banken verfügbar", so Commerzbank-Analyst Michael Schubert.
All diese Maßnahmen sollen verhindern, dass Banken auf dem Trockenen sitzen - selbst wenn sie einander weiterhin kein Geld borgen. "Das soll die Funktionsfähigkeit des Geldmarktes erhalten", erklärte der EZB-Chef.