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Zerfall und Kollaps der EU - oder doch Zusammenhalt?

Von Michael Gehler

Gastkommentare

Warum weitere Austritte aus der Europäischen Union nicht so bald zu erwarten sind.


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Woraus nähren sich Gelassenheit und Zuversicht in Zeiten, in denen vom gefühlten Ende der EU und von ihrem Zusammenbruch die Rede ist? Historische, institutionelle, verfahrenstechnische Motive, ein gegenwartsbedingter Grund sowie zwei Zukunftsperspektiven sprechen dafür.

Deutschland, der unvermeidliche Integrationsimperativ

So sehr in den 1950er, 1960er, 1970er und 1980er Jahren seine Einbindung und Kontrolle eine vorrangige Zielsetzung der übrigen Partner war, so ist seit seiner Einigung 1990 die Notwendigkeit der Einbindung und Kontrolle seines gewachsenen Wirtschaftspotenzials und seiner gestiegenen politischen Macht zwingender denn je. Ein Deutschland außerhalb der EU oder gar gegen die EU stehend ist unvorstellbar. Es wäre gegen jegliche wirtschaftliche Logik und politische Vernunft. Das bleibt eines der ehernen Gesetze der europäischen Integration. Ebenso unverzichtbar bleibt eine funktionierende deutsch-französische Partnerschaft, um nicht zu sagen eine "Achse", woran niemand in Frankreich vorbei kann - auch nicht Nationalisten.

Die integrierte Rechtsgemeinschaft

Die europäische Integration erlebte von der EWG über die EG bis zur EU jenseits der öffentlichen Wahrnehmung mit der Kommission als Hüterin der Verträge und dem Europäischen Gerichtshof als Garanten für die Einhaltung des Rechts und als Klagsinstanz bei Vertragsverletzungen ein Wachstum und eine Verdichtung von Prozessen der Gesetzeswerdung. Der gemeinsame Rechtsbestand besteht aus unzähligen Empfehlungen, Richtlinien, Verordnungen und Vorschriften, die das Leben der Europäer flächendeckend in den Mitgliedsländern zu ihrem Vorteil weit mehr bestimmen und durchgreifender regeln als nationale Gesetze.

Der Ausstieg kann nur ein sehr energie-, personal- und zeitaufwendiges Prozedere sowie ein handels-, investitions-, wettbewerbs- und wirtschaftspolitisch nachteilhaftes Verfahren sein. Das wurde durch das Brexit-Szenario erst bewusst öffentlichkeitswirksam wahrgenommen und dürfte als instruktives Anschauungsmaterial, integrationspädagogisches Nachholverfahren sowie Warnung für alle möglichen oder potenziellen Nachahmer dienen.

Der europäische Binnenmarkt

Durch die Realisierung der "Vier Freiheiten" (Dienstleistungen, Güter, Kapital und nicht zuletzt die Personen) sind seit 1993 für Gewerbe, Handel, Industrie und Wirtschaft - trotz der fortbestehenden nicht-tarifären Handelshemmnisse - eine Vielzahl von Erleichterungen und damit Vorteile für die genannten Branchen entstanden, so dass aus Sicht ihrer Interessenvertretungen ein Verzicht auf diese Vorzüge kaum vorstellbar, geschweige denn wünschenswert erscheint. Aus der Logik des Binnenmarkts erwuchs ein weiteres Projekt: der Euro.

Die Gemeinschaftswährung Euro als Klammer

Der Binnenmarkt würde ohne einheitliche Währung wenig Sinn ergeben: Mit dem Wegfall von Transaktionskosten und Umtauschzeiten sollte er weit mehr Wirkung entfalten. Hintergrund des Vorhabens war aber wieder Deutschland und dieses Mal seine immer mächtiger gewordene D-Mark, die Frankreichs Staatspräsident einmal die "deutsche Atombombe" genannt hat. Trotz aller Fehler bei der Einführung des Euro durch die Unterlassung der Schaffung einer Wirtschaftsunion, der mangelnden Einhaltung der Aufnahme- und Konvergenzkriterien sowie der Verletzungen der Stabilitätspakt-Vereinbarungen war der Euro eine integrationspolitische Klammer in Zeiten der Banken-, Finanzmarkt- und Staatsverschuldungskrise. Das gilt bis heute.

Ein EU-Europa ohne Euro wäre in diesen Krisenzeiten wohl mit einer übermächtigen D-Mark und Abwertungsspiralen der übrigen Währungen konfrontiert gewesen. Der Euro war im vergangenen Integrationsjahrzehnt von 2008 bis 2017 neben dem Binnenmarkt das stärkste politische Band der Integration und es spricht nach wie vor viel dafür.

Die Mehrzahl gemeinschaftlicher Organe

Es gibt formell wie praktisch ein Übergewicht der supranationalen vor den intergouvernementalen EU-Institutionen. Der Europäische Gerichtshof, die EU-Kommission, das EU-Parlament wie auch die Europäische Zentralbank stehen für gemeinschaftliche Aufgabenbereiche während der Europäische Rat und der Rat der EU die nationale Regierungszusammenarbeit repräsentieren. Bei allem Gewicht der Mitgliedstaaten ist von einem Verhältnis von 4:2 zugunsten der Supranationalität zu sprechen.

Wenn man bedenkt, dass vom Europäischen Rat, den regelmäßigen Treffen der Staats- und Regierungschefs, Beschlüsse getroffen wurden, die auch zu gemeinschaftlicher Politik wie der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat oder der "Wirtschafts- und Währungsunion" führten, so kann dies mit Blick auf den Zusammenhalt mehr für Integrationsbewahrung als für Integrationsverlust sprechen.

Außervertragliche Regelungen

Sollte es keinen gemeinsamen supranationalen Fortschritt geben, so hat sich die außervertragliche Regelung auf völkerrechtlicher Grundlage als pragmatische Antwort auf die Frage der Integrationsstagnation erwiesen. Solche Regelungen fanden sich für die 19 Eurozonenländer und zwar für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), den Fiskalpakt und die Bankenunion. Bei Ausweitung der Eurozone ist es für neue Mitglieder zwingend, diese Regelungen zu übernehmen. Es ist zwar dadurch nicht Unionsrecht für alle, es handelt sich aber um eine praktisch-rationale Maßnahme für den Zusammenhalt der engeren Euro-Union.

Äußere Krisen als Stimulatoren

Die europäische Integration lebte bei ihren Fortschritten von Krisen. Die von außen herrührenden Herausforderungen sind im Vergleich zu den Jahren 2007 oder 1997 nicht geringer geworden - im Gegenteil: Russland unter Präsident Wladimir Putin versucht die EU bewusst auseinanderzutreiben und zu schwächen. Die USA unter Präsident Donald Trump wünschen keine engere transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft. Die Türkei wandte sich als Partnerland unter Präsident Recep Tayyip Erdogan von den Werten der EU ab, um eine Enteuropäisierung und Islamisierung zu forcieren. Weder Putin, Trump noch Erdogan stehen für europafreundliche Politiker, eher sogar für Anti-Europäer. Das wird den Zusammenhalt der EU nach Abschluss des Brexit mittelfristig mehr befördern als schwächen.

Die Migrationskrise als Lösungszwang

Die weltweite Migrationskrise, die über die "Flüchtlingskrise" von 2015 weit hinausreicht, wird die EU-Mitglieder die Notwendigkeit einer gemeinsamen Asylpolitik (einheitliche Aufnahmeverfahren, gemeinsame Prüfungsstandards, anteilsmäßig gerechte und faire Verteilung, Unterbringung, Verpflegung und Vermittlung zur Arbeit) mehr erkennen lassen und zu mehr Kooperation zwingen. "Flexible Solidarität" wird nicht mehr genügen.

Die Notwendigkeit der sozialen Dimension

Ein zukunftsorientiertes Argument für die Aussicht auf fortbestehenden Zusammenhalt ist die Erkenntnis der Notwendigkeit zur Stärkung der "sozialen Dimension" der EU. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist sich der Dringlichkeit bewusst. Schon sein Vor-Vor-Vorgänger Jacques Delors wollte eine "Sozialunion" und dieses Anliegen im Maastrichter Unionsvertrag verankern, was unter anderem am Veto der Briten scheiterte. Auch wenn eine "Sozialunion" noch in weiter Ferne scheint, so wäre schon durch eine massive Aufstockung des Europäischen Sozialfonds (ESF) ein Schritt in diese Richtung getan. Mit dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs und den Wahlen zum EU-Parlament 2019 mit einem neuen EU-Kommissionspräsidenten wird das Thema wieder auf der EU-Agenda sein.

Das Kostenargument gegen einen EU-Austritt

Die ursprünglichen Motive für die Gründung und den Zusammenhalt der Gemeinschaften (Frieden, Lösung der deutschen Frage durch Einbindung, Wohlstand und Stärkung der Rolle Europas in der Welt) sind nach wie vor gültig. Hinzu kommt die Erkenntnis der Mitgliedstaaten, was sie ein möglicher Verlust der EU kosten würde.

Das "Cost-of-Non-Europe"-Argument bleibt wohl das aktuell stärkste Argument aus Sicht der mitgliedstaatlichen Egoismen. Solange die Vorteile die Nachteile einer Zugehörigkeit überwiegen, wird bei nüchterner und objektiver Analyse der EU kein Mitglied austreten. Außer man lässt sich vom Bauch her, von Emotionen und gefühlten Wahrheiten leiten, wie es vor allem in England beim Brexit-Referendum der Fall war.