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Iraks größte Raffinerie in Baidschi ist seit Wochen heiß umkämpft - IS macht Jagd auf Polizisten und Soldaten.
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Kirkuk. Ahmed ist völlig niedergeschlagen. In seinem ausgetragenen Trainingsanzug sitzt er auf dem Boden einer Wohnung in Kirkuk, die ihm nicht gehört und in der er nur vorübergehend Unterschlupf gefunden hat. Seine Frau und die drei Kinder sind verstreut bei Verwandten in den kurdischen Autonomiegebieten untergekommen. "Wir haben alles verloren", stöhnt der 35-jährige Iraker, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will. "Unser Haus in Baidschi haben sie zerbombt, nichts ist mehr übrig geblieben." Das Einzige, was der Familie noch bleibt, ist das nackte Leben. Viele haben auch das nicht mehr.
"Zuerst haben sie niemandem etwas zuleide getan", erzählt Ahmed vom Vormarsch der Terrortruppe IS, dem Islamischen Staat. Gleich nach dem Überfall auf Tikrit am 12. Juni seien die Dschihadisten auch in der 45 Kilometer entfernten Ortschaft Baidschi eingerückt - beide Städte liegen im Sunnitischen Dreieck. Die Einwohner von Baidschi hätten sie wohlwollend begrüßt. "Sie haben Benzin, Lebensmittel und Süßigkeiten verteilt." Jetzt, gut zwei Monate danach, sei alles anders. Sie finden heraus, wer von der Polizei oder der irakischen Armee sei. "Sie bringen uns um, entführen unsere Frauen und Kinder oder bombardieren unsere Häuser." Ahmed ist Polizist und musste daher schnell weg.
Belagerungsring
Seit Wochen tobt ein heftiger Kampf um die größte Ölraffinerie des Landes. Von drei Seiten aus griffen die islamischen Gotteskrieger die Industrieanlage in Baidschi am Sonntag zum wiederholten Male an. Schon im Juni gelang es ihnen, in den weitläufigen Raffineriekomplex einzudringen. Nach heftigen Kämpfen haben die Regierungstruppen die Terroristen jedoch wieder aus der Anlage vertrieben. Der Blutzoll war hoch. Seitdem haben die IS-Kämpfer einen Belagerungsring um die Stadt gezogen und kontrollieren die Pipelines zu und von der Raffinerie. Eine Leitung beliefert diese mit dem Rohöl aus den Feldern von Kirkuk, eine zweite pumpt Rohöl an den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Der Betrieb der Anlage ist somit unmöglich.
Ahmed weiß, dass nur etwa hundert Mitglieder einer Spezialeinheit der irakischen Armee geblieben sind, um den Komplex zuverteidigen. Am Montag konnten sie IS erneut am Eindringen hindern und wieder zurückschlagen. "Meistens preschen die Terroristen auf das Gelände der Raffinerie vor", erzählt ein höherer Beamter des Innenministeriums in Bagdad über die diversen Versuche, die Anlage einzunehmen, "müssen dann aber unter Gewehrsalven der irakischen Sicherheitskräfte und Hubschrauberverstärkung wieder weichen."
Wäre Baidschi nicht der Standort für Iraks wichtigste Ölraffinerie, würden nur wenige die Stadt mit ihren 60.000 Einwohnern kennen. Wer früher die Strecke von Bagdad in den Norden nach Mossul fuhr, der legte meist nach 180 Kilometern in Baidschi eine Pause ein - zum Tanken. Das Benzin kam aus der Raffinerie, dem größten Arbeitgeber der Region. Von Baidschi ist die Treibstoffversorgung weiter Teile des Nordiraks abhängig. Mit einer Verarbeitungskapazität von 310.000 Fass Rohöl (knapp 50 Millionen Liter) pro Tag deckte die Raffinerie mehr als ein Drittel des Inlandsbedarfs.
Ihren Ausfall bekommt vor allem die Millionen-Stadt Kirkuk drastisch zu spüren. Seit Wochen schon sind die Zapfsäulen der Tankstellen ohne Benzin, die Generatoren ohne Kerosin. Wenn der Strom ausfällt, sitzen die Menschen in über 40 Grad Hitze in ihren Häusern und kühlen ihre Hände und Füße mit den Eiswürfeln, die der Kühlschrank ohnehin gerade auftaut. Wer es sich leisten kann, kauft Treibstoff auf dem Schwarzmarkt. Straßenhändler mit zweierlei Kanistern - einen für Benzin, den anderen für Kerosin - gehören in Kirkuk erneut zum Stadtbild. Der Liter kostet 1500 Dinar (etwa ein Euro), ein Dreifaches des ursprünglichen Preises. Die Händler sagen, das Benzin käme aus der Türkei.
Erinnerungen an 2003
Schon einmal war Baidschi zum umkämpften Objekt geworden. Im Herbst 2003, nach dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen, wurde die Stadt zum Anziehungspunkt für die sunnitischen Aufständischen. Immer häufiger mussten Einheiten der Koalitionstruppen für Ruhe sorgen. Damals zogen die US-Truppen einen weitläufigen Ring um die Raffinerie. Gut abgeriegelt und schwer bewacht waren die Aufständischen mit direkten Angriffen wenig erfolgreich. Sie wichen auf Sabotageakte gegen die Pipelines aus, die schwieriger zu schützen sind. Auch Entführungen von Arbeitern häuften sich.
Am 24. Januar 2006 wurden in Baidschi die beiden Leipziger Ingenieure René Bräunlich und Thomas Nitzschke gekidnappt. Sie kamen nach 99 Tagen Geiselhaft wieder frei. Während damals die Aufständischen mit Al-Kaida an der Spitze auch vor Sprengstoffattacken auf die Industrieanlage nicht zurückschreckten, will IS die Anlage offensichtlich bewahren. Das erklärte Kalifat braucht dringend eine Raffinerie, um das Rohöl, das auf seinem Territorium gewonnen wird, zu verarbeiten. So scheint die Taktik der Terrortruppe heute eine andere zu sein: Sie greifen so lange an, bis es klappt.
Ahmeds Kollege Mahmoud berichtet, dass IS jetzt Flugabwehrgewehre auf Pick-ups einsetzen würde, um die Versorgungsflüge für die sich in der Raffinerie befindlichen Regierungstruppen zu stören. Es müssten vier Hubschrauber eingesetzt werden. Einer lande dann im Inneren der Raffinerie, wo die Soldaten sich befänden, und zwei oder drei sicherten den Transport mit Maschinengewehren ab. Sollte IS eines Tages die Geduld verlieren, befürchtet der Polizist, dass sie mit Mörsergranaten und Raketen angreifen. Dann allerdings werde die Raffinerie zerstört.
Auch Mahmoud konnte sich nach Kirkuk retten. Nachdem die Dschihadisten nach der Einnahme von Baidschi die Gefängnisse öffneten, strömten die Gefangenen hinaus und machten sich daran, sich an denen zu rächen, die sie dorthin gebracht hatten. Mahmoud wurde von Dieben, Räubern und Mördern bedroht, die er verhaftet hatte. In Kirkuk fühlt er sich noch sicher. Sollten die IS-Kämpfer allerdings auch hier einfallen, weiß auch er nicht mehr weiter.