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Wer den Muslimbrüdern folgt, von dem wird bedingungsloser Gehorsam verlangt.
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Kairo. Ägyptens Muslimbrüder gehen weiterhin auf Konfrontation: Sie haben nun zu einem Boykott der Volksabstimmung über die neue Verfassung aufgerufen. Die Islamisten-Bewegung erklärte nun, dass sie den Entwurf ablehne, da er als Folge eines "Militärputsches" entstanden sei. Die Abstimmung ist für Jänner angesetzt und soll genau jenes Grundgesetz ersetzen, das die Muslimbrüder 2012, als sie noch an der Macht waren, verabschiedet haben.
Nach dem Referendum sind Parlaments- und Präsidentenwahlen vorgesehen. Als nächster Präsident wird bereits General Abdul Fattah al-Sisi gehandelt - also jener Mann, der nach dem Sturz von Muslimbrüder-Präsident Mohammed Mursi im Sommer durch das Militär nun die Geschicke Ägyptens lenkt. Die Bruderschaft gerät einstweilen zusehends in Bedrängnis: Die alte Garde sitzt im Gefängnis, die Muslimbrüder sind als Organisation verboten worden und ihre Gelder wurden eingefroren. Nun schlägt aber die Stunde der Jüngeren innerhalb der Organisation.
"Viele junge Muslimbrüder sind nicht glücklich mit der Unnachgiebigkeit der Hardliner", sagt Khaled, der seinen vollen Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen will. "Unsere permanente Mobilisierung gegen den Putsch sollte nicht dazu führen, die neuen Realitäten zu verkennen, denen wir ins Auge sehen müssen, egal ob wir sie mögen oder nicht."
Noch können Khaled und ihm Gleichgesinnte ihre Position nicht offen artikulieren, um nicht als Verräter beschimpft und bedroht zu werden. Aber es sei doch eine Sache, den Putsch zu verurteilen, und eine andere, neue Horizonte zu suchen, sagt er. "Die Partei, die am meisten in der jetzigen Situation verliert, sind die Muslimbrüder. Die Gruppe, die bislang durch einen starken Zusammenhalt geprägt war, zerfällt."
Khaled und 20 Mitstreiter haben über Facebook einen Aufruf gestartet, in dem sie für eine Neuauflage der Bruderschaft als Organisation und der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei als deren politischer Arm plädieren. Gleichzeitig sprechen sie sich für Verhandlungen mit der Armeeführung aus. Geheime Treffen zwischen jungen und kompromissbereiten Muslimbrüdern und Mitgliedern der Übergangsregierung soll es bereits gegeben haben.
Islamisten agieren an Schulen und Universitäten
Die Pro-Mursi-Demonstrationen flauten immer mehr ab, zuletzt fanden sie nur noch an den Universitäten des Landes statt, wo die Muslimbrüder schon immer großen Einfluss hatten. Zwar waren sie bereits unter dem früheren Herrscher Hosni Mubarak verboten, doch kann ihr Dasein damals als halb-legal beschrieben werden. Anhänger der Bruderschaft bewarben sich als Direktkandidaten für Parlamentssitze, und die Muslimbrüder agierten in Schulen und Hochschulen. Schüler und Studenten sind oft leicht beeinflussbar und oppositionell gestimmt.
Und auch Kinder werden als Mitglieder geködert. So wurde Sameh Fayez bereits mit zehn Jahren in die Bruderschaft aufgenommen. Der heute 27-Jährige ist in Kerdasa aufgewachsen, einer Stadt, die vor ein paar Wochen von sich reden machte. Eine Anti-Terror-Einheit der Polizei stürmte die Stadt, durchsuchte jede Straße und jedes Haus nach Verdächtigen, verhaftete 65 Menschen.
Kerdasa liegt am oberen Ende der Pyramidenstraße in der Provinz Giza und ist eine Hochburg der Islamisten. Moscheen und Koranschulen bestimmen den Alltag der 800.000 Einwohner, von denen 90 Prozent Islamisten seien, wie Fayez behauptet. "Schon früh wirst du geprüft, ob du aufgenommen werden kannst", berichtet er über seinen Weg zum Muslimbruder. "Sie nehmen nicht jeden." Er habe sich geschmeichelt gefühlt, als er ausgewählt wurde. Plötzlich konnte er aus dem deprimierenden Alltag heraustreten, der Jugendlichen in Ägypten kaum eine Perspektive bietet, wurde respektiert und geehrt. Nach intensiver religiöser Schulung durfte Fayez die Gebete in der Moschee leiten. "Die Leute nannten mich Scheich."
Das ist lange her - Fayez ist mittlerweile aus der Organisation ausgetreten und hat mit den Muslimbrüdern gebrochen. Auch wenn seinen Erinnerungen an die Muslimbrüder keine guten sind, Terroristen, wie jetzt immer behauptet werde, seien die Muslimbrüder nicht, betont Fayez.
Muslimbrüder "haben mir meine Kindheit geraubt"
"Das Paradies der Muslimbrüder" heißt sein Buch, in dem der kleine Mann mit dunklen Augen und noch kindlichen Gesichtszügen seine Geschichte in der Bruderschaft und seinen Austritt erzählt. Der Titel entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn spätestens beim Ausbruch der Revolution im Januar 2011 wurde Fayez klar, dass er die Bewegung endgültig verlassen müsse. Das Paradies war für ihn zur Hölle geworden. Auf dem Cover des Buches sind Plüschtiere und Filzbären zu sehen und Schwerter, die sie durchkreuzen. "Sie haben mir meine Kindheit geraubt", erklärt Fayez.
Schon 2005 zweifelte er an dem Sinn seiner Mitgliedschaft. Damals gab es eine erste Aufbruchstimmung in Ägypten. Zum ersten Mal waren mehrere ernst zu nehmende Kandidaten neben Dauerpräsident Hosni Mubarak für die Wahlen zugelassen. Die Protestbewegung Kifaja formierte sich und forderte die Aufhebung der Notstandsgesetze, mit denen Mubarak seit seinem Amtsantritt im Oktober 1981 regierte. Kifaja mahnte Bürgerrechte ein.
Die Muslimbrüder führten jedoch einen ideologischen Richtungsstreit, bei dem sich die Alt-Konservativen durchsetzten. Fünf Jahre später wurde der islamistische Hardliner Mohammed Badie zum Vorsitzenden gewählt. Er sitzt jetzt hinter Gittern.
Fayez und viele andere waren enttäuscht. Es gab vermehrt Austritte. "Doch so schnell lassen die dich nicht aus ihren Fängen", erzählt der ehemalige Muslimbruder. Es gab Drohungen gegen ihn und seine Familie. Als die Revolution ausbrach, witterte er seine Chance zum Ausstieg. "Bist du nicht für uns, bist du gegen uns", lautete die Devise, mit der die Brüder fortan ihre Stimmen sammelten und die Wahl gewannen. Danach hätten sie versucht Ägypten so zu regieren, wie sie ihre Bewegung aufgebaut haben: bedingungsloser Gehorsam, vertikale Strukturen. "Aber Ägypten ist größer als die Muslimbrüder", betont Fayez.