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Ein Nein beim Referendum am Sonntag wäre wirtschaftlich hochriskant. Ein Ja könnte direkt ins politische Chaos führen.
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Athen/Brüssel/Wien. Auf der einen Seite Skylla. Eine schöne Nymphe und zugleich ein furchterregendes Monster: Der Unterleib besteht aus zwölf Füßen und sechs Hundeköpfen, in jedem Maul blitzt eine dreifache Reihe Zähne. Und auf der anderen Seite der Meeresenge - Charybdis: ein tödlicher Strudel, der die Schiffe in einen Abgrund zog, aus dem nicht einmal Poseidon sie befreien konnte. Die Schwierigkeiten, die Homers Held Odysseus hatte, den richtigen Weg zwischen zwei Übeln zu finden, erinnern an die Situation Griechenlands vor dem Referendum am Sonntag. Denn welches Ergebnis die Abstimmung auch bringen wird - die Konsequenzen für Griechenland werden in beiden Fällen dramatisch sein.
Und das auch dann, wenn sich die Griechen dafür entscheiden sollten, die Bedingungen der Gläubiger anzunehmen - wonach es laut Umfragen im Moment aussieht. In diesem Fall könnte die Regierung des linken Ministerpräsidenten Alexis Tsipras gezwungen sein, zurückzutreten. Von sich aus will der Premier, auf der Fluchtein Meister des Hakenschlagens, diesen Schritt nicht tun, wie er zuletzt in einem Interview angedeutet hat. Neuwahlen könnten zwar eine andere Regierung ans Ruder bringen - bis die allerdings eingeleitet werden und stattfinden, vergehen Monate. Inzwischen wäre das Land pleite - und politisch handlungsunfähig.
Drastische Warnungen
Ein "Nein" beim Referendum hingegen würde die Links-Rechts-Regierung von Tsipras und seinem Partner Panos Kammenos stärken. Die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds (IWF) aber stünden dann vor dem Offenbarungseid: Lässt man Griechenland pleitegehen? Oder gibt man am Ende doch noch nach und gewährt dem bankrotten Euroland weitere Hilfen und Kredite? Beide Wege, sowohl das "Ja" als auch das "Nein", bergen Risiken - ein bequemer Ausweg aus der Griechenland-Krise ist nicht in Sicht.
Was auf dem Spiel steht, wurde vor dem entscheidenden Wochenende noch einmal in Erinnerung gerufen. Der luxemburgische Premier Xavier Bettel warnte am Freitag in drastischen Worten vor den Folgen des griechischen Referendums. "Es geht um die Frage, ob die Union auseinanderbricht oder lieber zusammenarbeitet", sagte Bettel. Bei einem Ja gebe es schwierige Gespräche mit Griechenland, bei einem Nein noch schwierigere. Auch gehe es um den gegenseitigen Respekt. Es sei "nicht ideal", wie das Referendum organisiert sei, doch werde die EU die Entscheidung der Griechen akzeptieren.
In Griechenland steigt unterdessen die Nervosität. Das Land befindet sich seit Tagen im Ausnahmezustand. Die Banken sind seit Montag geschlossen, Hamsterkäufe nehmen zu. Wegen der Beschränkungen im Zahlungsverkehr wird das Kleingeld knapp. Jeder wolle mit 20-Euro-Scheinen vom Geldautomaten zahlen, sagte eine Gemüsehändlerin in Athen. Der Autoverwerter Alexandros Vougiouklakis berichtet, dass die Telefone bei ihm zu klingeln aufgehört haben, seit die Banken geschlossen haben und er nur noch 60 Euro pro Tag abheben darf. "Wir sitzen im Büro herum und wissen nicht mehr, was wir tun sollen", klagt der Geschäftsmann.
"Diese Woche ist die Situation noch zu bewältigen", sagt der Chef des Unternehmerverbandes ESEE, Vassilis Korkidis. "Aber nächste Woche werden sich die Probleme vervielfachen." Er listet die Schwierigkeiten auf, die vor allem kleine und mittelständische Unternehmen treffen. So haben diese keinen Zugang zum elektronischen Zahlungsverkehr, was vor allem Importeure lähmt. Diese können noch nicht einmal Lkw bestellen, die Waren ins Land transportieren, da diese auf der Rückfahrt leer bleiben würden und die Spediteure solche unrentablen Fahrten vermeiden wollen. Vorauszahlungen an Lieferanten sind kaum zu machen. Beim Zoll stauen sich die Waren wegen nicht bezahlter Gebühren. Die griechischen Exporteure wiederum bekommen keine Kreditgarantien von ihren Banken. Selbst wenn Unternehmen bei Kasse sind, können sie ihre Lieferungen nicht bezahlen, da die Banken das Geld wegen der Kapitalkontrollen nicht ins Ausland überweisen dürfen.
Die Syriza-Regierung gibt sich dennoch demonstrativ gelassen. Finanzminister Yanis Varoufakis deutete an, dass die Banken am Dienstag wieder aufmachen werden. Dies sei aber von einer Einigung mit den Gläubigern abhängig. Und die sieht Varoufakis immer noch in Griffweite: Auch bei einem "Nein" beim Referendum am Sonntag erwartet er eine Einigung mit den Gläubigern. Ein Abkommen sei bereits "mehr oder weniger" fertig, sagte er. Griechenland habe neue Vorschläge von den Euro-Partnern bekommen. Sollte das Referendum mit "Nein" ausgehen, könne die Regierung eine Schuldenerleichterung erreichen. Die Aussage des IWF, dass Griechenland eine Schuldenerleichterung brauche, bezeichnete Varoufakis als "Musik in meinen Ohren". Die IWF-Ökonomen hatten erklärt, dass Griechenland einen weiteren Schuldenschnitt benötigen könnte, wenn das Wirtschaftswachstum geringer als erwartet ausfallen würde und Reformen nicht umgesetzt würden. Bis 2018 habe das Land einen zusätzlichen Finanzbedarf von 50 Milliarden Euro. Die deutsche Regierung bleibt dennoch - zumindest vorerst - bei ihrem Nein zu einem weiteren Schuldenschnitt für Griechenland. Aus dem vom IWF ermittelten Finanzbedarf sei "keinesfalls der Schluss abzuleiten, dass ein Schuldenschnitt zwingend erforderlich" sei.
Ergebnisse am Sonntag
Unterdessen liefen am Freitag die Vorbereitungen für das Referendum auf Hochtouren - die Behörden sahen sich vor eine extreme logistische Herausforderung gestellt. In knapp einer Woche mussten die Wahlzettel gedruckt und die Urnen auch in das hinterste griechische Dorf gebracht werden. Über die Kosten des Wahlgangs herrschte bis zuletzt Uneinigkeit. Innenminister Nikos Voutsis veranschlagt 20 Millionen Euro, der Rechnungshof geht von 110 Millionen aus - wieder ein Indiz dafür, wie sehr die Emotionen jetzt hochgehen und wie wenig Platz für eine faktenbasierte Debatte geblieben ist. Die Wahllokale sind von 7 bis 19 Uhr Ortszeit geöffnet, erste Ergebnisse dürften bei uns am Sonntag um 20.00 Uhr vorliegen. Dann sind rund 20 Prozent der Stimmen ausgezählt, dann gibt es die ersten Trends. Das Referendum ist gültig, wenn mindestens 40 Prozent der Wahlberichtigten zur Urne gehen - das dürfte locker erreicht werden. Die griechische Airline Aegean Air bietet extra zum Referendum Sonderflüge nach Athen an. Zusätzliche Flüge ab London-Standsted und Brüssel sind geplant, wie es heißt. Denn abstimmen kann man nur in Griechenland selbst.
Viele sind verzweifelt und wissen nicht, welcher Weg aus dem Chaos führt. Auch Aspasia F. (Name von der Redaktion geändert). Die Kunsthistorikerin und Kreative lebt in Österreich. Was in ihrer Heimat geschieht, geht ihr dennoch an die Nieren. Immerhin leben ihre Eltern in Griechenland. Das Referendum am Sonntag ruft bei ihr ein Gefühl der "Zerrissenheit" hervor: "Man weiß nicht, ob man mit Ja oder Nein stimmen soll, beides ist schlecht. Wenn man Ja sagt, dann bestärkt man einen Status quo, der schlecht ist." Ein Nein, ist Aspasia überzeugt, würde unmittelbar auch nichts bringen, aber den Jungen vielleicht in 15 bis 20 Jahren eine Perspektive eröffnen. "Die, die jetzt 30 sind, haben ohnehin schon verloren. Die müssen das ausbaden, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde. Das ist eine verlorene Generation. Das ist der Grund, warum viele versuchen, Griechenland zu verlassen." Wut überkommt Aspasia, wenn sie an die Älteren denkt. "Die haben ein Leben lang gearbeitet, waren vielleicht ehrlich und nicht korrupt, haben in ein System ein Leben lang eingezahlt und bekommen jetzt absolut nichts zurück. Das sind Leute, die keine Option haben. Wer 75 ist, der kann nicht auswandern".
Kirche neigt zum "Ja"
Die Zweifel am Kurs der Syriza-Regierung steigen jedenfalls im Vorfeld der Abstimmung. Das Journal "Ethnos" veröffentlichte am Freitag eine Umfrage, wonach das Ja-Lager erstmals mit 44,8 zu 43,4 Prozent die Nase vor den Nein-Sagern hat. Vertreter der Orthodoxen Kirche stellten sich auf die Seite der EU-Befürworter. "Stimmt ab, wie immer ihr wollt, aber diesmal habe auch ich das Recht, ein Bekenntnis abzulegen: Ich werde für Europa votieren", erklärte Anthimos, der Metropolit von Thessaloniki, laut der Internetseite "kathweb.at" nach einer Predigt am Ende des Gottesdienstes. Teile der Gläubigen sollen darauf geklatscht, andere "nein, nein" gerufen haben. Auch Erzbischof Hieronymos, das Oberhaupt der Kirche, rief zum Verbleib bei der "gemeinsamen europäischen Familie" auf. Die Kirche ist in Griechenland ein starker politischer Faktor und bis heute von Steuerleistungen befreit - trotz der linken Syriza-Regierung, die auf den üblichen Amtseid auf die Bibel verzichtete.