Als sich der Kanadier David Reimer Anfang Mai, wie nun bekannt wurde, im Alter von 38 Jahren das Leben nahm, war die öffentliche Kritik vernichtend - für John Money, den 82-jährigen emeritierten Professor der John Hopkins University in Baltimore (USA). Money, immer wieder gern als einer der führenden Sexualforscher der Welt bezeichnet und in einem Atemzug mit Freud, Kinsey sowie Masters und Johnson genannt, hatte im tragischen Fall des Kanadiers tatsächlich schwere Schuld auf sich geladen, als er ihn einst einem sexualwissenschaftlichen Experiment unterzog, das in der Folge fatal fehlschlug.
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David, als Bruce Reimer geboren, war ebenso wie sein (eineiiger) Zwillingsbruder Brian bis zum Alter von acht Monaten ein gesundes Baby gewesen, ehe es zum auslösenden Missgeschick kam: Bei einer Beschneidung wegen Phimose verbrannte der Arzt seinen Penis. Die Eltern waren geschockt - bis sie rund ein Jahr später eine TV-Sendung mit dem Wissenschafter John Money sahen.
Money, 1921 in Neuseeland geboren, hatte Postgraduierten-Studien an den Universitäten Pittsburgh und Harvard in den USA absolviert, ehe er 1951 an die John Hopkins University ging, wo er zunächst einen Psychohormonal Research Unit begründete, dem 1966 die Gender Identity Clinic folgte, in der weltweit erstmals Sexualtäter mit hormonellen Anti-Androgenen und psychotherapeutisch behandelt wurden.
Alsbald wurde er allerdings mit jener medizinischen Fakultät konfrontiert, für die John Hopkins schon damals berühmt war: Die Sexualchirurgie für Kinder mit angeborenen Defekten der Geschlechtsorgane bzw. für Erwachsene, die eine Umwandlung des Geschlechts wünschen. Hier fand Money schließlich eine Hauptaufgabe - und Tausende Patienten, die ihm bis heute zutiefst dafür dankbar sind, dass er ihnen half, ihre sexuelle Identität zu finden und sie in diesem schwierigen Prozess unterstützte.
Im "Fall Reimer" verleitete Money indessen eine damals weit verbreite Theorie, die noch des Nachweises bedurfte. Sie lautete dahingehend, dass das Geschlecht ungleich mehr durch die Erziehung festgelegt werde, als sie durch die Gene bestimmt sei, und wurde vor allem von der Frauenbewegung emphatisch aufgenommen. Es darf in diesem Zusammenhang u.a. erinnert werden an die "sexuelle Revolution", an die Versuchsmodelle lieberaler ("antiautoritäter") Kindererziehung und daran, dass die traditionellen weiblichen Rollenbilder als biologische Determinierung sehr in Frage zu stellen waren.
Money glaubte jedenfalls, die sexuelle Identität eines Kleinkindes sei noch umzuformen und Davids/Bruces Eltern, vor allem die Mutter, ließen sich von dem waghalsigen Experiment überzeugen: Zunächst wurden die Hoden des Buben operativ entfernt, die Eltern waren dazu angehalten, ihn als Mädchen - nun mit dem Namen Brenda - zu erziehen und zum ganzen Sachverhalt eisern zu schweigen. Wobei es Money wohl besonders ideal gelegen kam, dass er in "Brendas" Zwillingsbruder Brian ein Vergleichsobjekt hatte.
Doch es kam alles anders, als Money vermutet hatte. "Brenda" verhielt sich in nichts wie ein Mädchen und entwickelte schwerste Verhaltensstörungen und -auffälligkeiten - wie übrigens auch ihr Bruder, der einen Hang zum Gewalttäter entwickelte. Die Mutter hielt sich zwar an die Vorgaben, wurde aber schließlich ebenso depressiv wie der Vater, der zunehmend unter Zweifeln litt und zum Alkoholiker wurde. Und Money musste Hormone einsetzen, um sein Experiment als Erfolg ausgeben zu können. "Brendas" Vater brach schließlich das "Schweigegelübde", als seine "Tochter" 14 Jahre alt war, was diese zunächst als Erleichterung empfand. Fortan nannte sie sich David (im Kampf gegen "Goliath" Money), unterzog sich den unumgänglich gewordenen plastisch- chirurgischen Eingriffen und heiratete schließlich, mangels Zeugungsfähigkeit, eine Frau mit drei Kindern.
Davids Geschichte wurde zunächst von John Colapinto ("As Nature Made Him") aufgegriffen und sowohl in der Fachwelt als auch in Transgender-Vereinigungen heftig diskutiert. Vielen galt er als "Hero", doch die Fassade zerbrach. Seine Frau trennte sich nach zehn Jahren von ihm, er verlor den Job und angeblich viel Geld durch falsche Investitionen. Seinen letzten Ausweg sah er im Suizid.
Schlussfolgerungen
Muss man in der Sache unrecht haben, weil man in einem Fall geirrt hat? Nachher sind bekanntlich alle klüger. Eines der Hauptprobleme der Disziplin besteht darin, dass jede Theorie irgendwann praktisch überprüft werden muss, was gelegentlich fatal schief gehen kann. Dass Money, der immerhin an die 40 Bücher und 400 Arbeiten publizierte, sich stets weigerte, öffentlich zum "Fall Reimer" Stellung zu nehmen, erschwert die Sachlage und macht ihn umso angreifbarer.
An diesem Punkt fällt auf, dass es Money vor allem an der gebotenen Distanz fehlen ließ. Die Verheißungen des Experiments ließen ihn offensichtlich das Naheliegende übersehen - wie etwa die Fixierung der Eltern auf die verunglückte Zirkumzision: Anstatt sich zu fragen, was eine angemessene Reaktion der Reimers darauf gewesen wäre - die es mutmaßlich auch "zu gut" mit dem Buben meinten - und sie mit den Möglichkeiten der plastischen Chrirurgie zu trösten, handelte er überstürzt und impulsiv. David blieb nicht nur nichts erspart, sein Trauma verdichtete sich und erfasste die gesamte Familie. Unter´m Strich spricht einiges dafür, dass ihr mit einer klassischen Therapie besser zu helfen gewesen wäre.