Gastkommentar: Nach der (kleinen) Reform ist vor der (großen) Reform.
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"Es gibt in unserer Schule keinen einzigen Raum, in den ich mich zwischen zwei Unterrichtsstunden zurückziehen, mich kurz entspannen und mental auf die kommende, besonders herausfordernde Stunde vorbereiten kann - es sei denn, ich blockiere dafür die Stoffwechselkabine. Und das Konferenzzimmer? Konferenzzimmer! Bevor ich das betrete, gehe ich lieber auf die Straße - auch wenn es aus Kübeln regnet! Warum? Nach der Schwerarbeit in der Klasse ist die ‚Legehennenbatterie Konferenzzimmer‘ völlig unerträglich, denn Kollegen schreien sich hier den Frust über Schüler, Eltern und Schulobrigkeiten von der Seele. Und der Direktor zuckt nur mit den Schultern, er hat ja selbst keine Hilfe ‚von oben‘ zu erwarten - das ist unerträglich!"
Solche Befunde hört man regelmäßig, wenn man Lehrpersonen in Situationen trifft, ihnen denen sie offen sprechen können - also in Abwesenheit von Vertretern der Schulobrigkeit, Eltern und Medien. Dass es Schulen gibt, deren Lehrer und Leiter einander nicht mehr grüßen, ist ein eher neues, aber immer häufiger anzutreffendes Phänomen. Die Gründe für die Zerwürfnisse unter den Lehrpersonen sind vielfältig.
Es hängt auch mit den Klassen - und dem Blick auf die Schüler - zusammen. So sagen zum Beispiel zwei verschiedene Lehrer über dieselbe Klasse: "Die 3a ist unerträglich! In manchen Stunden komme ich wegen der Disziplinlosigkeiten überhaupt nicht mehr zum eigentlichen Mathematikunterricht!" Oder aber: "Was? Die 3a ist im Religionsunterricht eine meiner interessiertesten und angenehmsten Klassen! Ja, es geht stets lebendig zu, aber niemals auf destruktive Art." Die Folge dieser Polarisierung um ein- und dieselbe Klasse: Die beiden Lehrpersonen bezeichnen einander als Unterrichtsversager beziehungsweise Angeber - eine Grundlage für enervierende, oft berufslebenslange Zerwürfnisse.
Nicht nur aus einer mittlerweile weltberühmten, rund 50.000 Einzeluntersuchungen zusammenfassenden Metastudie "Visible Learning" des neuseeländischen Pädagogen John Hattie aus dem Jahr 2008 weiß man, dass das Gelingen des Unterrichtes inklusive Schaffen einer unterrichtsfähigen Klassensituation zu rund 80 Prozent von dem abhängt, was die einzelne Lehrperson vor der Klasse tut - also von der individuellen Unterrichtskunst jeder einzelnen Lehrperson. Es geht ausdrücklich nicht um die Lehrerpersönlichkeit, sondern um deren situationskonkretes Tun im Unterricht.
Wenn dieses Tun zur Lehrperson und zur momentanen Verfasstheit der Klasse passt, dann gelingt der Unterricht auch in sehr schwierigen Klassen. Dies erklärt, warum man gar nicht so selten auf stille, bescheidene, gar wortkarge Lehrpersonen trifft, denen man recht schnell das Attribut einer "schwachen Persönlichkeit" zuordnen würde, die aber - überraschenderweise - einen bewundernswerten Unterricht halten. Es gelingt ihnen, gemäß ihrer ureigensten Individualität zu unterrichten, sie selbst zu sein und authentisch und damit überzeugend auch mit schwierigen Klassen erfolgreich zu arbeiten.
Unterricht ist individuellund daher wirkliche "Kunst"
Wie nun jede einzelne Lehrperson zur "individuellen Unterrichtskunst" führen? Auch hier gibt Hattie eine werthaltige Antwort. Er listet in seiner epochalen Studie 138 Gelingensbedingungen für den Unterricht auf - beginnend mit den bedeutendsten Faktoren hin zu den marginalsten. Überraschenderweise rangiert die eigentliche Lehrerbildung, also das Studium an sich, sehr weit hinten, die Lehrerfortbildung dagegen ganze 105 Punkte weiter vorne, also im Spitzenfeld.
Die Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon ist einfach, denn Lehrerfortbildung betrifft bereits im Beruf stehende Lehrpersonen und ist daher im Gegensatz zum meist theorielastigen Studium immer mit der Praxis, also mit der Schulwirklichkeit der Fortbildungswilligen, verknüpft. Lehrpersonen stellen sich die konkrete Frage: "Welche Fortbildung hilft mir bei meinem Unterricht in einer für mich besonders schwierigen Klasse?"
Eine besonders hohe Effektivität misst Hattie der "kollegialen Hospitation" zu, die etwa das BRG Dornbirn mit viel Erfolg praktiziert. Denn wer sind nun die eigentlichen, die wirklich hochprofessionellen Spezialisten für vorhin als Beispiel genannte "schlimme/brave" 3a? Es sind alle Lehrpersonen, die in dieser Klasse unterrichten. Wenn nun der unglückliche Mathematiklehrer und der enthusiastische Religionslehrer einander wechselweise im Unterricht besuchen, sich ehrlich über ihre Wahrnehmungen und Gefühle austauschen und dabei Vertraulichkeit vereinbaren und auch leben, kann dies die Basis für lebenslange Freundschaft und eine beglückende Maximierung des schulischen Nutzens für die Schüler und auch für die Lehrer selbst sein.
Noch wichtiger als das Studium ist die laufende Fortbildung
Diese Erkenntnis - marginale Bedeutung des Studiums, hohe Effektivität des berufsbegleitenden Aneignens der "individuellen Unterrichtskunst" - führt drastisch vor Augen, dass der österreichische Weg, die Lehramtsstudien zeitlich immer weiter auszudehnen und die Fortbildung kaum zu stärken, verkehrt ist und bloß Abermillionen von Euro sinnlos verbrennt, die anderswo im System fehlen - bei schulpraktisch kompetenten Psychologen, einfühlsamem Personal für die zunehmende Zahl traumatisierter Kinder . . .
Allerdings muss man auch bedenken: Hatties große Studie verlangt für ihre optimale Nutzung eine doppelte Übersetzung - eine sprachliche und auch eine inhaltliche, denn alle von ihm verwerteten Einzeluntersuchungen beziehen sich auf den angloamerikanisch beziehungsweise australischen Raum. Wenn Hattie etwa den Schulräumen eine geringe Wirksamkeit zuordnet, dann deshalb, weil die Schulen in diesem Kulturkreis räumlich traditionell optimal ausgestattet sind und dies als Selbstverständlichkeit empfunden wird. Ruhesuchende Lehrpersonen müssen sich dort nicht auf das WC zurückziehen, denn es stehen ideale kleinere Räume zur Verfügung, die auch der Regeneration dienen. Und legehennenbatterieartige Konferenzzimmer sind dort unbekannt.
Der Umgang mit unterrichtsverhindernden Problemschülern wiederum ist im angloamerikanischen Raum im Gegensatz zu unserer Praxis vergleichsweise rigide: Es gibt eine lange Latte an Disziplinarmaßnahmen und fallweise - etwa im britisch geprägten Hongkong - sogar echte Schulgefängnisse, in denen renitente Schüler bis zu drei Ferienwochen absitzen müssen.
Das notwendige Wissen für Verbesserungen ist vorhanden
Wie auch immer, die Studie von John Hattie kann auch für Österreichs Schule Nutzen bringen - wenn es wieder vorrangig um erfolgreiches Lehren und Lernen geht, wenn nicht Feindschaften, sondern wechselweise Hilfen und Freundschaften das Klima unter den Lehrenden bestimmen, wenn Stundenpläne nicht mehr unter dem Primat der täglichen frühestmöglichen Flucht aus der Konfliktzone Schule erstellt werden, wenn die Lehrer mit Freude und Erfolg ihrer Funktion als die bedeutendsten Akteure der Schule gerecht werden und so den schulischen Nutzen für alle Schüler zu einem Optimum führen.
All dies harrt der Verwirklichung auf der Grundlage eines überzeugenden Planes, der alle Gelingensbedingungen von Schule inklusive Föderalismus, Ressourcenverteilung, echter Autonomie, Bürgernähe, klar positionierter Verantwortlichkeit, schmaler Nutzenbürokratie statt überbordender, misstrauensgeleiteter und daher beschämungsträchtiger Schadensbürokratie im Interesse eines wirklich großen Ganzen zusammenführt. Das notwendige Wissen dafür ist vorhanden - es hat auf jedem Smartphone Platz.
"Multidisziplinarität" ist stets in aller Munde - praktizieren wir sie im Interesse einer Schulreform, die diese Bezeichnung zu Recht trägt. Alle Parteien und Akteure haben nach dem jüngst geschlossenen Pakt über eine kleine Reform einbekannt, dass "nach der (kleinen) Reform vor der (großen) Reform" sein wird.