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Ziel: "Überall Drogen - und keiner nimmt sie!"

Von Martin Poltrum

Wissen

Fachtagung zum Thema "Jugend, Sucht und Kultur". | Fachleute über aktuelle Phänomene der Gesellschaft. | Wien. Vergangenes Wochenende fand im Palais Ferstel eine mit österreichischen und deutschen Suchtexperten besetzte Tagung zum Thema Jugend, Sucht und Kultur statt. Das Anton Proksch Institut in Wien beleuchtete mit einem vielfältigen Programm die aktuellsten Aspekte. Neue Ergebnisse aus den Bereichen der Hirnforschung, der Psychopharmakatherapie, der Genderforschung wurden ebenso debattiert wie die Frage nach der Suchtklinik der Zukunft oder der Entwicklung einer neuen Behandlungskultur.


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Die Brisanz des Themas wurde bereits durch den ersten Beitrag von Reinhard Haller bestätigt, dem Leiter des Krankenhauses Stiftung Maria Ebene aus Vorarlberg: Sucht bzw. die damit einhergehenden Folgen seien in der westlichen Hemisphäre die häufigste Todesursache zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr - ausgenommen die USA, wo der Tod durch Schusswaffen diese Schreckensbilanz noch übertreffe. Diese Fakten stünden jedoch in einem reziproken Verhältnis zur geringen Bedeutung des Themas im Kontext der gesamten Medizin.

Genuss und Sucht

Die im Prinzip sehr gute Einteilung der Sucht in substanzgebundene Süchte wie Alkohol-, Nikotin-, Drogenu. Medikamentenabhängigkeit sowie in nichtsubstanzgebundene Süchte wie etwa Kleptomanie, Pyromanie, Ludomanie (pathologisches Spielen), Kaufsucht, Sexsucht etc. berge jedoch die Gefahr in sich, den Begriff der Sucht inflationär zu verwenden. Generell sei der Übergang von Genuss, Gebrauch und Missbrauch nicht immer so leicht zu bestimmen. Eine Unterscheidungshilfe bilden dabei laut Haller die klassischen Suchtkriterien: "Craving", eine Art Zwang zum Konsum, Verlust der Kontrolle, Toleranzentwicklung, Zentrierung des Lebensmittelpunktes um die Sucht und der Beginn einer Entzugssymptomatik beim Aussetzen der Substanz.

Generell gehe es jedoch nicht um eine Verteufelung von potentiell suchterzeugenden Substanzen etwa des "Superstars Alkohol", wie Haller meinte, sondern um einen gezielten Umgang. Letztlich sei das gestärkte Individuum Bollwerk gegen die Sucht. "Stell dir vor, es gibt überall Drogen, in bester Qualität, zu günstigsten Preisen - eine Situation, wie sie heute im Übrigen gegeben ist - und keiner nimmt sie." Vor allem eine Ethik des Maßes sei von Nöten, so Haller.

Der Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal beschäftigte sich indessen mit dem Thema "Jugendkulturen im Wandel" und problematisierte u. a. eine geläufige Definition des Begriffs Jugendkultur. Diese zeichne sich aus durch entsprechende Musik plus Kleidung plus Frisur und der dazugehörigen Droge. Von den Teddy Boys, der ersten in der Öffentlichkeit wahrgenommenen jugendlichen Protestbewegung, über die Mods, die Hippies, die Punk- und die Techno-Bewegung bis hin zu den Skatern, zeigte er ein Bild von Jugendkultur, durch das deutlich wurde, dass die Jugend immer schon das Ausloten und Überschreiten von Grenzen interessierte.

Ende der Jugend

Vor allem heute sei der Abstand der Erlebniswelt von Jugendlichen und Erwachsenen so groß wie noch nie zuvor. So werde der öffentliche Raum nicht mehr geteilt. Jugendliche machten sich unter anderem durch die Eroberung des virtuellen Raumes des Internets unsichtbar. Beendet wurde der Vortrag mit der provokanten und relativierenden These: "Es gibt keine Jugendlichen mehr, weil es keine Erwachsenen mehr gibt." Dazu Franz Resch, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg, der einen seiner Patienten bei der Suche nach seiner Identität zitierte: "Ich weiß gar nicht, was ich anziehen soll, die Latzhosen haben schon meine Eltern besetzt."

Der "Jugendwahn"

Eine ganz andere Perspektive zu Jugendlichkeit eröffnete Christian Haring, Primar des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall, mit dem Vortrag "Der Wahn vom Jung-Bleiben und seine Folgen". Von der Schönheitschirurgie über die Fitnessindustrie und die Medien würden Konstrukte im Kopf der Menschen erzeugt, die "jung" mit "attraktiv, gesund, dynamisch, flexibel und sexuell aktiv" belegen und vom Alter das Gegenteil behaupten. Was man für "jugendlich" halte, werde durch Operationen und Medikamente bzw. durch eine Medizin, die sich immer mehr der Machbarkeit verschreibe, herzustellen versucht. Dadurch begäbe sich diese in Gefahr, krank machend zu wirken.

Dem Genderaspekt von Sucht ging Senta Feselmayer, Psychologin und Psychotherapeutin am Anton Proksch Institut, in ihrem Vortrag nach. Die neuesten Zahlen und Fakten zeigen, dass Alkohol- und Drogenmissbrauch zwar immer noch eine Domäne der Männer sei, sich jedoch eine Verschiebung zu ungunsten der Frauen feststellen ließe. Während das Verhältnis von alkoholkranken Männern und Frauen 1994 noch 4:1 war, zeige eine Erhebung von 2004 ein Verhältnis von 3:1. Generell würden das beschleunigte Erwachsenwerden und die zunehmende Angleichung der Geschlechterrollen bewirken, "dass mehr junge Frauen früher und mehr konsumieren."

Neue Sicht notwendig

Den Schluss- und Höhepunkt setzte Michael Musalek, designierter Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, ärztlicher Direktor des Anton Proksch Instituts und Tagungspräsident. Seine Hauptforderung: Es bedarf neben einer neuen Sicht des Patienten auch einer neuen Behandlungskultur. So wie Medizin nicht nur als "Evidence Based Medicine" aus kalten Fakten und Zahlen bestehen dürfe, so gelte es auch, den süchtigen Patienten zu entstigmatisieren.

Sucht sei ebenso als Krankheit zu werten wie ein Infarkt oder ein Karzinom. Niemand würde auf die Idee kommen, beim Wiederauftreten eines Karzinoms moralisierend auf den Patienten einzureden. Bei einem "Suchtrückfall" hingegen, den Musalek als "Rezidiv" bezeichnet wissen will, werde das noch immer getan. Er insistierte mit einem enthusiastischen Plädoyer für eine neue "Human Based Medicine", die den Menschen mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten als Gesamtkunstwerk sehe und die Medizin wieder als Heilkunst, Ars Medica.