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Zitterpartie in Afghanistan

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik

Millionen Geisterwähler, tägliche Anschläge und kaum Wahlbeobachter: Am Hindukusch wird am 5. April gewählt.


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Kabul. Das stattliche Haus mit seiner herrschaftlichen Aufgangstreppe wirkt, als wolle es auf der Stelle einstürzen. Seine weiß-roten Wände sind mit Einschusslöchern übersät, die die aufständischen Taliban-Kämpfer hinterlassen hatten, die stundenlang das Büro der Afghanischen Wahlkommission in Kabul mit Raketenwerfern und Maschinengewehren angriffen. Die Wahlhelfer hatten Glück im Unglück. Sie konnten sich rechtzeitig in den Bunker im Keller des Hauses retten. Doch die unablässigen Angriffe der radikal-islamischen Terroristen in den letzten Wochen machen es zunehmend schwerer, Afghanistans Präsidentenwahl am 5. April als Triumph der Demokratie zu feiern.

"Es sind wirklich schlechte Nachrichten", sagt Janad Spingar, der Leiter der größten afghanischen Wahlbeobachtergruppe "Free and Fair Election Foundation of Afghanistan". Nach dem brutalen Terroranschlag der Taliban auf das hochgesicherte Serena-Hotel hatten zunächst fast alle internationalen Wahlbeobachter, die in der Luxusherberge untergebracht waren, ihre Koffer gepackt und Afghanistan verlassen. Mittlerweile ist rund die Hälfte zurückgekehrt. "Internationale Beobachter sind für eine Wahl sehr, sehr wichtig", sagt Spingar. Das Land am Hindukusch soll einen Nachfolger für Präsident Hamid Karzai bestimmen, der nicht noch einmal für das höchste Amt kandidieren kann. Die Wahl gilt als wichtige Weichenstellung für die Zukunft Afghanistans, das Ende des Jahres voraussichtlich keine ausländischen Soldaten mehr auf seinem Boden stationiert haben wird.

Manipulationen, Fälschungen

Es ist bereits die fünfte Wahl in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban Ende 2001. Und es gibt kaum Illusionen, dass es ausgerechnet bei dieser Abstimmung im April weniger Manipulation, Fälschung und Korruption geben wird als bei den früheren Urnengängen. Viele fürchten eine Wiederholung der Trauma-Wahl von 2009, wo 20 Prozent aller abgegebenen Stimmen von der Wahlkontrollkommission in einer wochenlangen Prozedur annulliert wurden. Bestärkt wird diese Angst auch durch die Tatsache, dass die Wählerlisten voll von Geisterwählern sind. Zur Wahl gehen kann jeder, der in den letzten zehn Jahren abstimmen durfte, egal, ob er lebt oder tot ist. Damit könnte auch die US-Popsängerin Britney Spears ihr Votum abgeben, wenn sie es in die Unruheprovinz Kandahar schafft, wo sie 2009 als "Britney Jamilia Spears" samt ihrem Foto registriert war, was damals für viel Spott sorgte. Afghanistan mit einer Bevölkerung von rund 30 Millionen hat um die 12 Millionen Wähler, doch mehr als 20 Millionen könnten aufgrund der nie aktualisierten Wahlregister berechtigt sein, ihre Stimme abzugeben. Wie bei allen vorhergehenden Urnengängen sind Wahlkarten schon seit Monaten käuflich.

Noch mehr als die Furcht vor einer getürkten Wahl überschattet die Angst vor Anschlägen diese Abstimmung: Die radikal-islamischen Taliban haben allen gedroht, die an der Wahl teilnehmen oder bei der Organisation mithelfen. Der Urnengang sei "verschwendete Zeit" und "gläubige Menschen" sollten sich fernhalten, hatten die Aufständischen verlauten lassen. Bisher haben sie alles getan, ihre Drohung wahr zu machen. Kein Tag vergeht ohne dreiste Anschläge, Morde und Selbstmordkommandos: auf Hotels, Hilfsorganisationen, NGOs, Büros der Wahlkommissionen, Häuser von Politikern und überhaupt ausländische Ziele. Mit der wachsenden Unsicherheit in Afghanistan bekommen internationale Geber und Hilfsorganisationen zunehmend kalte Füße. "Afghanistan ist weiterhin eines der gefährlichsten Länder für Unterstützungsoperationen", heißt es in einem Bericht afghanischer und internationaler NGOs in Afghanistan vom Jänner. Allein im Jahr 2013 wurden am Hindukusch 29 Mitarbeiter von Hilfswerken getötet, 71 verletzt und 111 gekidnappt.

Arzt gegen Ökonom

Das Rennen konzentriert sich auf drei Männer - allesamt alte Bekannte in Afghanistans politischer Landschaft: Abdullah Abdullah, ein früherer Augenarzt und ehemaliger Führer der gegen die Sowjetunion kämpfende Nordallianz, der 2009 gegen Karzai verlor. Abdullah ist in seiner Heimat im Norden populär, doch im Süden wegen seiner ethnischen Abstammung kaum wählbar. Erneut zur Wahl steht auch Ashraf Ghani, ein früherer Weltbank-Ökonom und ehemaliger Finanzminister, der 2009 gerade einmal drei Prozent aller Stimmen bekam. Mit seinem pro-westlichen Background dürfte Ghani ein Wunschkandidat der Amerikaner sein, die sich vom Nachfolger Karzais vor allem erhoffen, dass sie Militärbasen in Afghanistan behalten können. Doch der 64-Jährige, der 24 Jahre seines Lebens außerhalb Afghanistans gelebt hat, tut sich schwer, mit seinem westlichen Politikstil das Vertrauen der Wähler zu gewinnen. Umfragen zufolge liegt Ghani im Rennen vorne, doch wieweit solche Prognosen in einem Unruhe-Land wie Afghanistan ein wirklicher Indikator sind, ist umstritten.

Ein recht unbeschriebenes Blatt ist Zalmay Rassoul, ein früherer Außenminister und Leibarzt des letzten afghanischen Königs, ist ein politischer Weggefährte von Präsident Karzai. Viele Analysten glauben daher, dass er, als die politisch schwächste Figur unter den drei Top-Kandidaten, von Karzai gestützt wird, der daran arbeitet, auch nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik weiter seinen Einfluss gelten zu machen. Weil das afghanische Wahlsystem verlangt, dass der Sieger eine Mehrheit von über 50 Prozent erzielen muss, gilt eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten als wahrscheinlich.

Amt als Schleudersitz

Egal, wer künftig der Hausherr im "Arg", dem Präsidentenpalast in Kabul, sein wird, das hohe Amt könnte sich rasch als Schleudersitz erweisen. Wie lange sich der Nachfolger von Karzai halten wird, wenn der Westen Ende 2014 seine Truppen abgezogen hat, ist offen für Spekulationen.

"Vier Wochen nach dem Abzug sind die Taliban wieder an der Macht", prophezeit ein früherer britischer Offizier, der in Kabul als Sicherheitsberater arbeitet. Andere erinnern an der Schicksal von Mohammed Najibullah, der nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 noch drei Jahre lang die Präsidentschaft innehatte: Najibullahs Herrschaft endete jäh, als die Russen ihre finanzielle Unterstützung aufkündigte und das Land in eine wirtschaftliche Krise stürzte.

Rund zwölf Millionen Afghanen sind am 5. April dazu aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Seit vergangenem Jahr wurden rund 3,7 Millionen neue Wahlausweise ausgestellt. Die seit 2004 ausgegebenen Ausweise früherer Wahlen bleiben gültig. Jeder Wähler kann in jedem Wahllokal in Afghanistan seine Stimme abgeben. Um Wahlbetrug zu vermeiden, wird ein Finger bei der Stimmabgabe mit nicht abwaschbarer Tinte markiert.
Von den landesweit mehr als 7170 Wahlzentren mit über 20.000 Wahllokalen bleiben nach Angaben der Unabhängigen Wahlkommission (IEC) rund 750 aus Sicherheitsgründen geschlossen. Die Taliban haben Anschläge angekündigt und Kandidaten, Wähler sowie Wahlhelfer mit dem Tode bedroht. Sie halten die Abstimmung für eine Farce, bei der die USA nach ihrer Überzeugung im Hintergrund die Strippen ziehen. Die 352.000 afghanischen Polizisten und Soldaten haben die Verantwortung dafür, die Wahl zu sichern.
Die Stimmenauszählung beginnt am Tag nach der Wahl und soll nach IEC-Angaben bis zum 20. April dauern. Am 24. April will die Wahlkommission das vorläufige Ergebnis verkünden.
Einwände wegen Betrugs oder Unregelmäßigkeiten prüft die Wahlbeschwerdekommission. Am 14. Mai will die IEC das amtliche Endergebnis verkünden.