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Lange Zeit fehlten Frauen in der Astronomiegeschichte. Die ganz wenigen Ausnahmen erhielten nur deshalb Zutritt zu den Sternwarten, weil sie die Töchter, Ehefrauen oder Schwestern berühmter Himmelskundler waren. Doch im ausklingenden 19. Jahrhundert beginnt sich das Berufsbild der Astronomen zu wandeln. Anstatt Nacht für Nacht ein Sternchen ums andere mit dem Fernrohr anzuvisieren, montieren die Männer nun immer häufiger Fotoplatten ans hintere Ende des Teleskops. Einmal entwickelt, lassen sich die Aufnahmen am Tag auswerten.
Das allererste Bild eines Sterns gelang 1850 am Harvard College Observatory in Cambridge, Massachusetts. 1877 übernimmt der US-Astronom Edward Pickering die Leitung dieser Sternwarte. Eine neue Außenstelle im peruanischen Arequipa soll das südliche Himmelszelt ablichten - und zwar mit einem 60 cm weiten Teleskop, das 10.000 mal mehr Licht einsammelt als das menschliche Auge. Mit Fotoplatten bestückt, erfasst die Riesenkamera während der zwei bis fünf Stunden dauernden Belichtungen selbst äußerst zarte Lichteindrücke. So werden Abertausende von zuvor völlig unbekannten Sternchen sichtbar.
Himmelsfotografie
In Cambridge soll dann die Position möglichst vieler Pünktchen auf den Fotoplatten vermessen und in Himmelskoordinaten umgerechnet werden. Zudem will man aus ihrem Schwärzungsgrad die jeweilige Sternhelligkeit ableiten. Für derart mühsame Routinejobs sucht Direktor Pickering mehrere verlässliche, aber billige Arbeitskräfte. 1881 heuert er hierfür seine aus Schottland stammende Haushälterin Williamina Fleming an, eine junge, vom Ehemann verlassene Mutter. Weitere Damen gesellen sich hinzu, darunter Antonia Maury, Annie Jump Cannon und Henrietta Leavitt.
Erst die Himmelsfotografie öffnet Frauen also den Weg in die Astronomie - fast vier Jahrzehnte, bevor sie sich in den USA das Wahlrecht erkämpfen. Astronomische Rechnerinnen arbeiten bald auch im australischen Melbourne, im argentinischen Cordoba, am südafrikanischen Kap der Guten Hoffnung, in Paris und in Kiel.
Henrietta Leavitt wurde am 4. Juli 1868 in Lancaster, Massachusetts, geboren. Ihr Vater, ein Pastor, befasste sich mit Astronomie und legte großen Wert auf Allgemeinbildung. Als ältestes der sechs Leavitt-Kinder hat Henrietta mehrere europäische Sprachen gelernt, Latein und Altgriechisch inklusive. Sie widmet sich aber auch der Philosophie, der Mathematik, der Physik und der Himmelskunde.
1893 beginnt sie am Harvard-Observatorium zu arbeiten; zwei Jahre lang ohne Sold, dann für 25 Cent pro Stunde. Die besser bezahlten männlichen Kollegen nennen sie und ihre Kolleginnen manchmal verächtlich "Pickerings Harem". Die Frauen selbst verstehen sich als vollwertige As-tronominnen, auch wenn sie bloß am Schreibtisch werken dürfen.
Henrietta mustert die abgebildeten Sternpünktchen mit großer Geduld. Die beweist allerdings auch Direktor Pickering, denn Miss Leavitt erscheint mitunter monate-, ja jahrelang nicht zum Dienst. Sie reist durch Europa, pflegt Verwandte oder nimmt sich wegen eigener, offenbar sehr erschöpfender Krankheiten lange Auszeiten.
Ans Observatorium zurückgekehrt, soll Henrietta neue "Veränderliche" auf den Fotoplatten entdecken. So nennen Astronomen Sterne, die ihren Glanz variieren. Als besonderes Eldorado erweisen sich hier die Große und die Kleine Magellansche Wolke, benannt nach dem Weltumsegler Ferdinand Magellan. Die peruanische Teleskopkamera löst jedes der beiden südlichen Nebelgebilde in ein wahres Meer von Sternen auf. Henrietta durchmustert Plattenstapel aus den Jahren 1893 bis 1906. Die Schwärzungen vergleichend, macht sie tatsächlich 1777 Sterne aus, die ihre Helligkeit periodisch ändern. Die meisten zeigen das charakteristische Lichtspiel der sogenannten "Cepheiden".
Helligkeitsvariationen
Diese Untergruppe der Veränderlichen zeichnet sich durch einen sehr regelmäßigen Lichtwechsel aus. Dem auffallend raschen Helligkeitsanstieg folgt ein gemächliches Abklingen. Die beiden ersten Vertreter dieser Klasse gingen im englischen York ins Netz. Im September 1784 bemerkte dort Edward Pigott leichte Helligkeitsvariationen beim Stern Eta Aquilae im Sternbild Adler. Sein Freund und Nachbar John Good-ricke, seit einer Scharlacherkrankung taub, stieß am 23. Oktober des gleichen Jahres auf ähnlichen Wechselganz beim Delta Cephei im Kepheus: Der wurde alle 129 Stunden doppelt so hell wie sonst und schenkte der ganzen Sternenklasse schließlich seinen Namen. Goodricke beobachtete Delta Cephei in mehr als hundert klaren Nächten. Dann starb er, erst 21 Jahre alt, an einer Lungenentzündung.
Auch die Liste von Henriettas puritanischen Vorfahren reicht bis in die Grafschaft Yorkshire zurück. Und sie wird später ebenfalls das Gehör verlieren. Zunächst gelingt es ihr aber bei 16 fotografierten Cepheiden, die Lichtwechselperioden zu bestimmen. Sie liegen, je nach Stern, zwischen 30 Stunden und 127 Tagen. Dabei fällt ihr auf: "Die helleren Cepheiden haben die längeren Perioden". Diese bemerkenswerte Beziehung hält sie 1908 in den Annalen des Harvard Observatoriums fest. Der Fund bleibt ohne wirkliche Resonanz. Im März 1912 reicht sie weitere Veränderliche in der Kleinen Magellanschen Wolke nach. Auch sie folgen der genannten Regel. Diesmal lässt Pickering den Aufsatz unter seinem Namen drucken, "vorbereitet von Fräulein Leavitt".
Im Rundschreiben des Observatoriums wird die Beziehung zwischen der Periodenlänge und der Helligkeit der Cepheiden schon ausdrücklich "Gesetz" genannt. Weil alle Cepheiden der Kleinen Magellanschen Wolke in gleicher Erddistanz blinken, verrät die Dauer ihres Lichtwechsels deren absolute Leuchtkraft - also die ins All abgesandte Lichtmenge. Man muss bloß noch nachschauen, wie viel von ihrem Licht tatsächlich bei uns ankommt - und schon kennt man deren Erdabstand. Henrietta hat also ein Maßband für das Universum gefunden!
Ihr neuer Zollstock muss noch an mindestens einem Cepheiden mit bekannter Erddistanz geeicht werden. Sie selbst wird das nicht tun. Andere, zeitraubende Rechenarbeiten warten auf sie. Henrietta Leavitt stirbt am 12. Dezember 1921 an Krebs, 53-jährig, ledig und kinderlos. Andere Astronomen fahren dank ihrer Pionierarbeit atemberaubende Erfolge ein. So steckt Harlow Shapley, Pickerings späterer Nachfolger, mit Hilfe der Cepheiden den Durchmesser der Milchstraße ab.
Für Shapley ist sie die einzige Galaxie im ganzen Kosmos. Doch ab 1924 macht Edwin Hubble einzelne Cepheiden auch in den sogenannten "Spiralnebeln" aus - und bestimmt so deren Distanzen. Jetzt wird klar, dass die Spiralnebeln sehr weit außerhalb unserer eigenen Milchstraße schweben und damit selbst ausgedehnte Galaxien sein müssen. Je weiter ihre Entfernung, so erkennt Hubble 1929, desto rascher scheinen sie vor uns zu fliehen. Diese Beo-bachtung wird zum Beleg für die Expansion des Kosmos.
Die Cepheiden mit den längsten Lichtwechselperioden strahlen mit der Kraft von 50.000 Sonnen und mehr. Leavitts Maßband reicht somit bis in eine Distanz von etwa 100 Millionen Lichtjahren hinaus. Für noch größere Abstände bedient man sich anderer, jüngerer Verfahren, die aber mit den Cepheiden "geeicht" wurden.
Der großen Anfangsmasse wegen stellen sich im Kernbereich dieser Riesensonnen extreme Temperaturen ein. Geht der Brennstoff dort zur Neige, blähen sich die Schwergewichte zu wahren Giganten auf, sogenannten "Überriesen". Die bei der Kernfusion erzeugte Gammastrahlung tut sich aber schwer, den kolossalen Sternenleib zu verlassen. Sie wird unter anderem an freien Elektronen gestreut, die einer im Sterninneren versteckten Heliumschicht entrissen wurden - der großen Hitze wegen.
Pulsierende Sterne
Die Streuung führt zum Energiestau, der den Cepheiden noch weiter aufbläht. Die genannte Heliumschicht wird dabei nach außen gedrängt, kühlt ab und fängt so wieder mehr Elektronen ein. Das vermindert die Streuung; die Gammastrahlung findet nun leichter ihren Weg nach außen. Deshalb fällt der Stern ein Stück in sich zusammen. Das Helium rückt dabei näher zum Kern und wird neuerlich erhitzt. Wieder gehen Elektronen verlustig, die Streuung steigt. Dann staut sich die Energie abermals, und der ganze Vorgang beginnt von vorn. Dank des "Helium-Ventils" pulsiert der Stern wie ein gewaltiges Herz und ändert seinen Glanz.
Nicht jeder Riesenstern ist ein Cepheide. Denn um die erwähnte Ventilfunktion ausüben zu können, muss die unvollständig ionisierte Heliumschicht in der korrekten Tiefe stecken; nicht zu knapp am Kern, aber auch nicht zu weit davon entfernt. Die Temperatur muss ebenfalls stimmen. Jedenfalls brauchen die mächtigsten, hellsten Cepheiden für ihre Pulsationen mehr Zeit als die kleineren, schwächeren. So geraten sie zum "kosmischen Zollstab".
Vergleichsweise rasch, nämlich alle 5,37 Tage, schlägt der Puls des namensgebenden Sterns Delta Cephei im Kepheus. Man erspäht ihn schon mit bloßem Auge. Henrietta Leavitt würde aus seiner Periodenlänge heute eine 2000-fache Sonnenleuchtkraft errechnen. Im Vergleich mit der scheinbaren Helligkeit am Himmel ließe sich dann rasch seine Entfernung abstecken: Es sind 900 Lichtjahre.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachautor in Wien und schreibt seit 1991 astronomische Artikel für die "Wiener Zeitung". www.himmelszelt.at