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Fast die Hälfte aller Wiener Eisgeschäfte sind in italienischer Hand.
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Wien. Bei Familie Molin Pradel ist fast immer Sommer. Um genau zu sein, von März bis Oktober. Egal, ob die Sonne scheint oder nicht. "In den Köpfen der Menschen gehört zum Sommer immer ein Eis", erklärt Silvio Molin Pradel. Er ist stolzer Beisitzer des "Italienischen Eissalons" am Schwedenplatz. In Wien gehört der gebürtige Italiener zum Eis-Adel. Er ist Gelatiero in fünfter Generation. "Ich esse jeden Tag Eis - und das schon in der Früh", sagt der schlanke Mann. Die Geschichte der Familie Molin Pradel ist eine Geschichte der italienischen Zuwanderung nach Wien. Und wie das Eis nach Wien kam.
Für die Italiener spielte die Donaumetropole seit jeher eine besondere Rolle. "Im 19. Jahrhundert gab es in Österreich mehr italienische Arbeitskräfte als in Deutschland", sagt Annemarie Steidl, Assistenz-Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. "Vor allem beim Eisenbahnbau, auf den großen Wiener Baustellen, darunter der Donaukanal, waren italienische Bauarbeiter tätig. Es kamen aber auch Architekten, Maler, Musiker und Prediger. Sie bestimmten das kulturelle Erbe Wiens", erklärt Steidl.
Und sie brachten auch das Eis mit. Um 1850 wurden die ersten Eisdielen in Wien eröffnet. Diese wurden sehr provisorisch eingerichtet, im Winter zugesperrt, ihre Einrichtungsgegenstände abgebaut und in einem Warenlager untergebracht, damit sie in der nächsten Saison wieder hervorgeholt werden konnten. Dafür benötigte man jedoch ein neues Lokal, denn das alte war bereits anderweitig vermietet. Aus diesem Grund wechselten die Eisdielen immer wieder die Adresse.
Das erste Eisgeschäft der Familie Molin Pradel war eher bescheiden. Lediglich vier Räder hat Arcangelo Molin Pradel benötigt. Mehr nicht. 1886 stellte der Holzfäller sein erstes Eiswagerl auf die Dresdnerstraße im 20. Bezirk auf. 1906 eröffneten seine Kinder den ersten Eissalon der Familie in der Alserbachstraße in Alsergrund. Einige Jahre später trennten sich die vier umtriebigen Geschwister und jeder betrieb sein eigenes Geschäft.
Verbündeter von Elternund Jugendlichen
Anfang der 1930er Jahre sperrte Silvio Molin Pradel Senior, Pradels Großvater, den Eissalon am Schwedenplatz auf, wo heute sein Enkel mit seiner Frau werkt. Damals war dieser mehr als nur ein beliebter Treffpunkt. Er war Zufluchtsort, Liebeshöhle und sicherer Hafen besorgter Eltern. In der Familie Molin Pradel wähnten sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern Verbündete.
"Mein Vater erzählt noch heute die Geschichte von Müttern, die sich trauten ihre Töchter alleine in den Eissalon zu schicken, weil es hier keinen Alkohol gab", erinnert sich Silvio Pradel Junior. Man vertraute dem Italiener. Gelegentlich gab es auch Kontrollanrufe besorgter Eltern bei Vater Remo. Einmal meldete sich eine aufgebrachte Mutter: "Remo, ist Marie da?", "Ja", lautete dessen Antwort, hatte ihn Töchterchen Marie doch noch vorher gebeten, ja als Alibi herzuhalten, wenn ihre Mutter anrufen sollte. So konnte sie ungestört mit Karl flanieren. Um die Lieblingseissorte ging es dann schon längst nicht mehr.
Was macht ein gutes Eis überhaupt aus? Natürliche Rohstoffe aus der unmittelbaren Umgebung und "bei uns ist es auch die Biomilch", erklärt Molin Pradel. Und man hält sich an die Gesetze der Natur: "Im März gibt es keine Waldbeersorte", fügt seine Ehefrau Deborah Molin Pradel hinzu, "denn die Waldbeere wächst noch nicht." Der Kunde muss sich im Frühjahr also noch gedulden.
Dafür gibt es rund 130 andere Sorten, die im gleichen Haus produziert werden. Nur ein paar Schritte hinter der Eis-Theke stehen Eismaschinen, Metallbehälter, weiße Kübel und Kartons mit frischem Obst. Gerade werden Zitronen ausgepresst. Täglich wird das Eisgemisch hier homogenisiert, pasteurisiert und vom Ehepaar gekostet. "Mir ist sehr wichtig, dass viele Zutaten aus der Umgebung kommen und frisch sind", sagt der Besitzer. So fließen in der Saison 70.000 Liter Milch durch die Röhre und 70 Tonnen Früchte werden gewaschen, geschnitten, gepresst und verarbeitet. Während die Zutaten größtenteils aus Österreich stammen, bleibt das Rezept ein italienisches. Das hat er von seinem Großvater bekommen, der es wiederum von seinem Urgroßvater geerbt hatte. Und dieser reiste jeden Winter nach Italien, um im Sommer mit den geheimnisvollen Rezepturen nach Wien zurückzukehren.
"Das haben wir auch lange gemacht", erzählt Molin Pradel, der zweifache Familienvater, "aber wegen der Kinder bleiben wir da", sagt Silvio Molin Pradel. Er hat viel zu tun, denn er ist auch Obmann der "Gelatieri Italiani in Austria", der Vereinigung der Italienischen Eiserzeuger Österreichs. Mit dem Verein, der bereits 1927 gegründet wurde, halten die Mitglieder den Kontakt untereinander; gelegentlich streiten und konkurrieren sie, aber in der Regel helfen sie einander, vor allem im Notfall. "Ein Mann wurde ins Spital gebracht, seine Frau konnte das Geschäft nicht alleine führen, also ist ein Kollege eingesprungen", erinnert sich Molin Pradel.
Die größte Anerkennung für seine Arbeit bekam Molin Pradel vor drei Jahren, als man ihn zum Obmann der Berufsgruppe der Eissalons in der Wirtschaftskammer Österreich wählte. "Nach fünf Generationen ist das möglich gewesen", sagt er, "für mich ist das Integration und ein Dankeschön an meine ganze Familie."