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Zu den Waffen, Schwestern!

Von Kerstin Viering

Wissen
Die Sklavenhalter-Ameise könnte nicht überleben, hätte sie keine Zwangsarbeiterinnen.
© wiki commons

Evolution lässt versklavte Ameisen den Nachwuchs ihrer Herrinnen töten.


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Berlin. Wenn sich Sklaven auf ihre Kräfte besinnen, kann es für ihre selbsternannten Herren ganz schön ungemütlich werden. Das mussten zweibeinige Sklavenhalter, vom alten Rom bis in die USA des 19. Jahrhunderts, immer wieder erleben. Auch ihren Kollegen im Tierreich bleibt diese Erfahrung nicht erspart.

So verschleppen manche Ameisen Mitglieder anderer Völker zur Zwangsarbeit in ihr eigenes Nest. Die Opfer sind allerdings nicht so wehrlos, wie man meinen könnte. Durch Sabotage und Aufstände können sie dem fremden Staat beträchtlichen Schaden zufügen, berichten Susanne Foitzik von der Universität Mainz und ihre Kollegen im US-Fachjournal "Evolutionary Ecology". Die Forscher beschäftigen sich mit dem wenig nachbarschaftsfreundlichen Lebensstil der amerikanischen Sklavenhalter-Ameise Protomognathus americanus. Diese nur zwei bis drei Millimeter großen Tierchen leben im Nordosten der USA und in Kanada. Ihre für Ameisenverhältnisse äußerst kleinen Kolonien, die problemlos in eine hohle Eichel oder Nussschale passen, bestehen aus einer Königin und weniger als zehn Arbeiterinnen.

Damit die Art überlebt, müssen mehrere Dutzend fremde Arbeitskräfte hinzukommen, die die Nahrungsbeschaffung, die Pflege der Brut und die Verteidigung des Nestes erledigen. Ohne ihre Unterstützung wäre die Kolonie hilflos. Also bringt die Sklavenhalter-Ameise Zwangsarbeiterinnen in ihre Gewalt. Dazu schickt sie zunächst einen Spähtrupp los, um nach Nestern von drei eng miteinander verwandten Ameisenarten der Gattung Temnothorax zu fahnden. Haben die Kundschafterinnen ein vielversprechendes Ziel entdeckt, gehen ihre Kolleginnen zum Angriff über. Die krabbelnde Räuberbande tötet oder vertreibt die erwachsenen Nestbewohner, um deren Brut zu sich zu verschleppen. Wenn die entführten Puppen in der Sklavenhalter-Kolonie schlüpfen, halten sie den Geruch des Nestes für den ihrer eigenen Art - und übernehmen später bereitwillig alle Arbeiten. Fortpflanzen können sich die Sklavinnen im fremden Nest nicht. Die Sklavenhalterinnen müssen zu immer neuen Raubzügen aufbrechen, um neue Arbeitskräfte zu entführen.

Die häufigen Überfälle machen den Temnothorax-Arten so sehr zu schaffen, dass sie im Laufe ihrer Evolution Abwehrstrategien entwickelt haben. So haben Wissenschafter immer wieder beobachtet, wie die Tiere ihre Angreiferinnen zurückschlugen oder rechtzeitig das Nest evakuierten. Nur in Gefangenschaft schienen die Temnothorax-Ameisen machtlos.

Ermordung der Larven

Bis Foitzik und ihre Kollegen im Jahr 2009 beobachteten, dass die Zwangsarbeiterinnen begannen, den Nachwuchs ihrer Herrinnen zu töten anstatt ihn zu pflegen. Egal, ob die untersuchten Sklavenhalter-Völker aus West Virginia, Ohio oder New York stammten: Überall erwiesen sich die Sklavinnen als wehrhaft. Den jüngsten Nachwuchs des fremden Volkes versorgten sie zwar noch - 95 Prozent überlebte das Larvenstadium. "Wahrscheinlich können die Sklavinnen zunächst nicht erkennen, dass es sich um die Brut einer anderen Art handelt", vermutet die Mainzer Forscherin. Sobald sich die Larven aber verpuppen, wird es kritisch. Sie sehen dann schon aus wie Ameisen und tragen einen chemischen Personalausweis auf ihrer Oberfläche. Den erkennen die Sklavinnen als fremd - und fackeln nicht lange.

Manchmal vernachlässigen sie die fremde Brut, manchmal stürzen sie sich auch zu mehreren auf die wehrlosen Puppen und reißen sie in Stücke. Im Durchschnitt überlebten nur noch 45 Prozent der Sklavenhalter-Puppen, bei Völkern aus West Virginia sind es sogar nur noch 27 Prozent.

"Da sie sich im fremden Nest nicht fortpflanzen können, gewinnen die Sklavinnen selbst keinen Vorteil", räumt Foitzik ein. Aber immerhin geht ein dezimiertes Sklavenhalter-Volk seltener auf Raubzug. Die Rebellion kommt anderen Temnothorax-Völkern zugute: Indem sie zum Angriff übergehen, verringern die aufständischen Ameisen also die Gefahr, dass ihre Schwestern versklavt werden.