Mutiert die Türkei endgültig zu einer Art Erdoganistan?
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"It’s the economy, stupid!" Bill Clintons genialer politischer Berater James Carville hat diesen Wahlkampfslogan geprägt, und mit dem Fokus auf das Thema Wirtschaft wurde Clinton 1992 zum US-Präsidenten gewählt. Und das, obwohl der damalige Amtsinhaber George Bush ein Jahr davor - nicht zuletzt wegen des Irak-Krieges - noch Sympathiewerte von 90 Prozent bekommen hatte.
"It’s the Economy, stupid!" - diesen Slogan hat Kemal Kilicdaroglu, der Herausforderer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, in seinen Wahlkampfvideos mit einer Zwiebel versinnbildlicht. Auf dem Tisch seiner vergleichsweise bescheiden eingerichteten Küche extemporierte Kilicdaroglu über die explodierenden Lebensmittelpreise in der Türkei und prangerte die auf dem Rekordniveau von 43 Prozent liegende Inflation an. Dies und die Tatsache, dass die türkische Lira zur Ramschwährung verkommen ist und die Börse in Istanbul seit Monaten schwächelt, sollten eigentlich zu Erdogans Abwahl führen. Schließlich geht es doch um die Wirtschaft, oder etwa nicht? Nun ja.
Erdogan eröffnete derweilen in Sultanmanier ein Atomkraftwerk, ließ einen türkischen Flugzeugträger vom Stapel laufen und setzte sich hinters Steuer des ersten türkischen Elektroautos. Fast die Hälfte des türkischen Wahlvolks hat sich von der Großmannpose und dem Patriotismusgedudel Erdogans einlullen lassen und ihm uns seiner AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) die Stimme gegeben. "Da ist jemand in seiner Küche, aber wir sind auf dem Balkon", ätzte Erdogan über Kilicdaroglu, als er Sonntagnacht vom Balkon der AKP-Parteizentrale zu seinen Anhängern sprach.
Das Wahlergebnis ist für seinen Herausforderer Kilicdaroglu eine herbe Enttäuschung: In den Umfragen war er mit einer stabilen Mehrheit in Führung gelegen, doch tatsächlich konnte er mit seiner Allianz aus sechs Oppositionsparteien nur 45 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, während Erdogan es um ein Haar (49,5 Prozent) geschafft hätte, schon im ersten Wahlgang als Präsident wiedergewählt zu werden.
Was politische Beobachter beunruhigen sollte (und zwar nicht nur in der Türkei): Das "rational choice"-Modell, das besagt, dass die Wählerinnen und Wähler ihre rational begründeten Interessen zur Basis ihrer Wahlentscheidung machen, hat ausgedient. Denn hätten die türkischen Wählerinnen und Wähler darüber abgestimmt, welcher der Kandidaten gut für ihre Geldbörse und für die Zukunft der nächsten Generation ist, dann hätten sie Erdogan aus dem Amt gejagt. Nun muss beim zweiten Wahlgang am 28. Mai schon ein Wunder geschehen, damit das passiert. Damit ist zu befürchten, dass die Türkei endgültig zu einem Erdoganistan mutiert.