Helene Hanfstaengl und ihr Sohn Egon gehörten zu den wenigen Menschen, die ihren "Führer" in seinem Landhaus "Wachenfeld" besuchen durften. Der damals 15-jährige Egon erinnerte sich später an seine Eindrücke.
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Der über dem bayrischen Berchtesgaden thronende, als Touristenattraktion seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beliebte Obersalzberg drang in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts als "Hitlers Berg" in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit.
Den damit verbundenen schlechten Ruf sollte das schöne Hochtal nie mehr verlieren. Bis heute umweht eine Aura des geheimnisvoll Bösen die Ruinen des Dritten Reichs. Bilder von Politikern, die dem "Führer und Reichskanzler" in dessen "Berghof" mit dem spektakulären Panoramafenster ihre Aufwartung machten, haften im kollektiven Gedächtnis. Ein Nachhall der im Dritten Reich zirkulierenden Gerüchte über unheimliche Vorgänge in dem einstigen Zentrum der NS-Macht, scheint spürbar.
Leben im Landhaus
Wie sich jedoch das Leben in Hitlers bescheidenem Landhaus "Wachenfeld" im Herbst 1933, kurz vor dem Ausbau zum großen Hauptquartier, abspielte, überliefern die einzigartigen Erinnerungen von Egon Hanfstaengl. Einladungen in sein kleines ländliches Domizil reservierte der "Führer" als Auszeichnung für ganz wenige, persönliche Bekannte. Im vorliegenden Fall handelte es sich um Helene Hanfstaengl und ihren 15-jährigen Sohn Egon. Hitler schätzte die Gattin seines Auslandspressechefs, eine weltgewandte Deutsch-Amerikanerin, die als große Schönheit galt, sehr. Vor allem jedoch vergaß er nicht, dass sie ihn, als er sich nach seinem gescheiterten Putschversuch am 9. November 1923 auf der Flucht befand, in ihrem Landhaus in Uffing am Staffelsee verborgen und verarztet, vielleicht sogar von einem Selbstmordversuch abgehalten hatte.
"Hitlers Auto holte uns kurz nach Mitternacht ab und brachte uns vorerst zu seiner Wohnung auf dem Prinzregentenplatz (in München)", erinnert sich Egon - der für eine Woche anberaumte private Besuch in Haus "Wachenfeld", dem Vorläufer des "Berghofs" konnte beginnen. "Um halb zwei morgens brachen wir in zwei Mercedes-Wagen mit offenem Verdeck auf". Im ersten Wagen saßen Hitler, sein Chauffeur Erich Kempka und seine Gäste. Im zweiten Wagen fanden acht schwer bewaffnete Leibwächter, Angehörige der SS, das sogenannte "Begleitkommando", Platz. Von Zeit zu Zeit wechselten die Autos ihre Positionen.
Auf einer einsamen Strecke in den Wäldern nahe Rosenheim stotterte der Motor des ersten Wagens und starb schließlich ganz ab. Sofort fuhr der zweite Wagen knapp heran und blieb stehen. In Erwartung eines Hinterhalts sprangen die Leibwächter, ihre automatischen Waffen im Anschlag und bereit zu feuern, heraus. Sie umstellten Hitlers Auto, ihn selbst schirmten sie mit ihren Körpern ab. Kempka öffnete die Motorhaube, während Hitler ihm mit der Taschenlampe leuchtete. "Es ist das alte Übel", meinte der Chauffeur. "Einer der Roten (=Kommunisten, Anm.) hat den Tank geöffnet, Zucker hineingeworfen und damit die Ventile verstopft." "Ihr Männer solltet vorsichtiger sein", bemerkte Hitler, während er Kempka beim Putzen der Ventile beobachtete, "es sollte niemandem möglich sein, sich den Wagen zu nähern".
Die Ankunft in Berchtesgaden erfolgte bei Tagesanbruch. Als man die steile Straße auf den Obersalzberg fuhr, ging die Sonne auf. Hitlers Halbschwester, Angela Raubal, die für ihren Bruder den Haushalt führte, begrüßte die Ankömmlinge. Sie servierte ihnen, bevor sie zu Bett gingen, um den verlorenen Schlaf nachzuholen, einen Imbiss. Von ihrem kleinen Zimmer im ersten Stock hatten die Gäste einen grandiosen Ausblick: auf den Watzmann, in das Tal der Ache und weiter bis nach Salzburg. Die Einrichtung des Zimmers, wie auch die des übrigen Hauses entstammte, wie Hitlers Architekt Albert Speer abfällig berichtete, aus der "Vertiko-Periode altdeutscher Heimattümelei", mit dem Gepräge behaglicher Kleinbürgerlichkeit.
Um die Mittagszeit führte Hitler durch sein Wochenenddomizil, das er 1928 mit Hilfe des Münchner Verlegers Bruckmann, zuerst gemietet und dann gekauft hatte. Die Gäste zählten zu den letzten Besuchern, die das knapp nach 1900 erbaute "Haus Wachenfeld" noch in ursprünglichem Zustand sahen: als kleines Holzhaus mit weit überstehendem Dach und bescheidenen Räumen, einem Esszimmer, einem kleinen Wohnzimmer, drei Schlafzimmern. Der Betrieb des Haushalts wirkte fast familiär und im Herbst 1933, sieben Monate nachdem die NSDAP die Macht ergriffen und Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, besaß das Hochtal von Obersalzberg noch seinen ursprünglichen Charme.
Der Gastgeber führte auch sein eigenes Schlaf- und Arbeitszimmer vor. Bemerkenswert daran waren nur die Bücher, die in einem offenen Bücherregal neben einem kleinen Schreibtisch standen. Erstaunt bemerkte Egon an die 30 Bände von Karl May, darunter "Winnetou", "Old Surehand", "Der Schatz im Silbersee", "Durch die Wüste", "Der Schut". Es schien ihm merkwürdig, dass der Kanzler des Deutschen Reichs in seiner Freizeit Abenteuerromane für Jugendliche las.
Die gemeinschaftlichen Mahlzeiten wurden im Esszimmer des Erdgeschosses eingenommen. Frau Raubal, die vor ihrer Tätigkeit auf dem Obersalzberg die jüdische Studenten-Mensa der Universität Wien geführt hatte, kochte originale Wiener Küche. Jeden Tag servierte sie den Gästen - Hitler aß damals nur mehr vegetarisch - Huhn in einer dicken, weißen, für den Geschmack der Besucher zu süßen, Sauce. Die Gespräche der drei Erwachsenen bei Tisch drehten sich um Musik, Politik, chinesische Kunst und vieles andere. Hitler, der ansonsten meist belehrend dozierte, hielt sich zurück und bemühte sich sichtlich um die Rolle des höflichen Privatmannes.
Zwanzig Todesurteile
Helene und Egon waren die einzigen Logiergäste. Interessiert beobachteten sie das ständige Kommen und Gehen von NS-Funktionären, die sich in den umliegenden Pensionen einquartiert hatten. Hermann Göring, zu dieser Zeit Ministerpräsident von Preußen, kam täglich. Er und Hitler pflegten im Garten auf und ab zu gehen und vertrauliche Gespräche zu führen. Eines Tages drangen Bruchstücke ihrer Konversation zur kleinen Hausterrasse hinauf. ". . . ich habe soeben zwanzig Todesurteile unterzeichnet . . .", hörte man Görings dröhnende Stimme. Helene Hanfstaengl wunderte sich zwar über seinen zufriedenen, fast fröhlichen Tonfall, als überzeugte Anhängerin der NSDAP kam sie jedoch zu dem Schluss, dass alles schon seine Richtigkeit haben werde.
Im Garten hinter dem Anwesen hatten die Leibwächter, acht durchtrainierte, muskulöse Männer des SS-Begleitschutzkommandos,ihr Quartier samt einem Schießstand aufgeschlagen. Einige von ihnen begleiteten Hitler schon seit Jahren. Ihre Bewaffnung bestand aus Peitschen und Walther-Pistolen. Stolz erzählten sie dem jungen Egon von Gewalttaten aus der "Kampfzeit" der NSDAP, als sie auf den Trittbrettern hängend, Hitlers Auto einen Weg durch feindliche Menschenmassen gebahnt hatten. Dabei wäre es vorgekommen, dass sich eine Gruppe von Frauen an die Spitze der politischen Gegner stellte, um den NS-Politiker an der Weiterfahrt zu seinen Propagandaauftritten zu hindern. "Keine Zeit für Galanterien!" bemerkten die Leibwächter zu den blutigen Schlägereien. "Kommt das Auto einmal zum Stehen, ist alles verloren!"
Im Herbst 1933 gab es auf dem Obersalzberg keine Vorfälle. Tagsüber lagen die SS-Männer in der Sonne, blätterten in Zeitschriften oder lasen, wie ihr Chef,Karl May-Bücher. Paarweise gingen sie in Intervallen von zwei Stunden auf Patrouille um den Garten. Man beobachtete sie bei ihren Schießübungen - alle waren akkurate Schützen. Es sickerte durch, dass sie geschworen hatten, sich gegenseitig umzubringen, falls dem "Führer" während ihres Dienstes durch ihre Unaufmerksamkeit etwas zustoßen sollte.
Nach einigen Tagen hatte sich die Anwesenheit Hitlers herumgesprochen. Touristen aus ganz Deutschland erschienen. Bis zu 50 Menschen versammelten sich gleichzeitig vor der Gartentür und warteten geduldig darauf, ihr Idol zu sehen. Manche der NS-Pilger baten die Gäste, Hitler zu überreden, sich zu zeigen. Erschien dieser, ging ein Raunen durch die Menge, Frauen schienen der Ohnmacht nahe. Eine der Verehrerinnen wurde beobachtet, wie sie sich bückte, durch den Gartenzaun griff, einen Stein nahm, den Hitlers Fuß berührt hatte, und ihn wie eine Reliquie in einem Glasfläschchen verstaute.
Eines Tages stand Hitler auf der Terrasse des Hauses, den Blick auf Salzburg gerichtet. Egon stellte sich dazu und beide betrachteten die Feste Hohensalzburg in der Ferne. Nach langem Schweigen erklärte Hitler: "Schau Bub, das da drüben ist Österreich, ein schönes Land!" "Warum fahren wir nicht hin? Es ist doch nicht weit!" Adolf Hitler, der die österreichische Staatsbürgerschaft abgelegt und über den ein Einreiseverbot verhängt worden war, lächelte geheimnisvoll. "Wir werden, wir werden. Es ist eine Schande, dass sie nicht zu uns gehören. Aber sie werden heimkommen ins Reich." Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten Vorbereitungen für jenen - misslungenen - Putschversuch, bei dem die Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 gewaltsam die Macht in Österreich zu erringen suchten, bereits angelaufen.
Ab 1934 setzte unter der Leitung von Martin Bormann, der damals zum Stab von Rudolf Heß zählte und später zum mächtigen Leiter der Parteikanzlei aufstieg, eine rege Bautätigkeit auf dem Obersalzberg ein - der Umbau des Wochenend-Domizils zu einem großen Anwesen und Führerhauptquartier. "Wachenfeld" verschwand inmitten großer Anbauten und wurde in "Berghof" umbenannt. Die umliegenden Gehöfte wurden angekauft oder enteignet. Mehr als 50, oft seit Jahrhunderten in dem Hochtal ansässige Bauernfamilien verloren ihren Besitz. Tausende von Fremd- und Zwangsarbeitern bauten Kanzleien, Kasernen, Mannschaftsunterkünfte, Personal- sowie Gewächshäuser und sprengten eine Straße auf den Kehlstein aus den Felsen. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trieben sie Stollen für eine riesige Bunkeranlage in den Berg.
Abgeriegeltes Gebiet
Einige NS-Bonzen wie Hermann Göring, Albert Speer und Martin Bormann schufen sich in der Nähe dieses Machtzentrums eigene Häuser. Das hermetisch abgeriegelte und in drei Sperrkreise gegliederte Gebiet konnte nur nach strengen Kontrollen betreten werden. Verließ der Konvoi des "Führers" den Obersalzberg, um nach Schloss Kleßheim zu fahren, bewachten schwer bewaffnete, im Abstand von 100 Metern postierte SS-Männer die gesamte, 27 Kilometer lange Strecke nach Salzburg.
Am 23. April 1945 zerstörte ein Geschwader der "Royal Air-Force" Hitlers von seinen Bewohnern verlassene Berg-Idylle. Unmittelbar darauf brachen die kurz davor noch "führertreuen" Berchtesgadener über das Gelände herein. Sie kamen mit Fuhrwerken, Fahrrädern, zu Fuß und transportierten, wie Augenzeugen berichten, aus den Ruinen der Häuser der NS-Bonzen alles nur irgendwie Verwertbare ab: Vorräte, Bücher, Teppiche, Wertgegenstände und Andenken. Später sollte das von Rechtsradikalen sowie Liebhabern von NS-Devotionalien heimgesuchte, einstige Führerhauptquartier mit seinen ausgedehnten Bunkern, für immer wiederkehrende Aufregung sorgen. Schließlich wurden die Gebäudereste eingeebnet.
Anna Maria Sigmund lebt als Historikerin in Wien und ist Autorin zahlreicher historischer Bücher, darunter: "Die Frauen der Nazis", Bände I bis III, und "‚Das Geschlechtsleben bestimmen wir‘. Sexualität im Dritten Reich" (2008).