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Frankfurt/Main - Hendryk Mandelbaum sieht jeden Abend vor dem Einschlafen die gleichen Bilder: schreiende Menschen, Gaskammern, Berge nackter Leichen und Öfen, in denen die Leichen verbrannt werden. Mandelbaum ist einer von etwa 2.100 ehemaligen Häftlingen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, die dem so genannten Sonderkommando angehörten. Von den rund 80 Überlebenden dieser Sonderkommandos sind heute nur mehr 25 am Leben.
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Die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe hatten unter den Nationalsozialisten einige der furchtbarsten Aufgaben im KZ: Sie mussten die vielen tausend Leichen in die Verbrennungsöfen schieben, mussten den anderen Häftlingen auf dem Weg in die Gaskammern ihr Hab und Gut abnehmen, mussten die Gaskammern vom Kot, Urin und Blut der Ermordeten reinigen. Die Nazis machten sie zu Handlangern des Todes.
Die meisten Mitglieder dieser Sonderkommandos wurden erschossen, weil sie die Auschwitz-Wahrheit kannten. Mandelbaum ist einer von den etwa 25, die heute noch leben. Die ARD widmet ihnen am Mittwochabend um 23.30 Uhr die 45-minütige Dokumentation "Sklaven der Gaskammer - Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz" des Filmemachers Eric Friedler. Dem Redakteur des Südwestrundfunks (SWR) ist es gelungen, zu einigen der ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen Kontakt aufzunehmen. Mehrere Monate Überzeugungsarbeit waren nötig, um sie dazu zu bewegen, das Erlebte vor der Kamera zu schildern.
"Nur ganz wenige wollten reden", sagt Friedler, der sich seit Jahren mit dem Thema NS-Zeit und Nazigold beschäftigt. Die meisten hätten aus Scham oder Schuldgefühlen nicht einmal ihren engsten Familienangehörigen von ihrer Zwangsarbeit zwischen Gaskammer und Krematorium erzählt. Diejenigen, die ihr Schweigen brachen, erzählten bis zu zehn Stunden lang. Andere brachen das Interview mittendrin ab. Friedler drehte unter anderem in Rom, Israel und Polen. "Es hat drei Jahre gedauert, bis der Film fertig war", sagt der Autor.
Mandelbaum kehrte mit dem SWR-Team an den Ort des Schreckens zurück: In den Ruinen der Krematorien von Auschwitz beschreibt er, wie sie die Toten aus den Gaskammern verbrennen mussten, wie sie anschließend größere Knochenteile zerstampfen und die Asche in einen nahe gelegenen Teich kippen mussten. Teilweise wurde die menschliche Asche als Dünger oder zum Straßenbau verwendet.
Denn auch das war Teil des Massenmordes: Die Opfer wurden bis aufs Letzte ausgebeutet. Nachdem man sie in den Gaskammern umgebracht hatte, mussten Häftlinge wie Mandelbaum ihnen auch noch die Goldzähne herausbrechen und die Haare abschneiden. Reichte die Kapazität der Öfen nicht aus, mussten sie Gruben ausheben, darin einen Scheiterhaufen aufschütten und die Leichen ins Feuer kippen. "Die Nazis verbrannten sogar einige Kinder und alte Leute bei lebendigem Leib", erinnert sich ein anderer Ex-Häftling im Film.
Weil die übrigen Häftlinge nicht die Wahrheit erfahren sollten - offiziell hieß es, Auschwitz-Birkenau sei ein Familien- und Arbeitslager -, wurden die Angehörigen des Sonderkommandos isoliert. "Wir lebten alle wie auf dem Mond", erzählt ein Überlebender. Wenn Häftlinge auf dem Weg in die Gaskammer fragten, was mit ihnen geschehen würde, war das für Mandelbaum und seine Kameraden besonders schlimm. Lügen wollten sie nicht, die Wahrheit sagen auch nicht, um Panik zu vermeiden.
Nach dem Krieg wurden einige Angehörige des Sonderkommandos mit dem Vorwurf konfrontiert, sie hätten sich mitschuldig gemacht. Auch deshalb sprachen die meisten nie darüber. Ein Protagonist sagte nach dem Interview: "Es ist schon Ironie des Schicksals, dass ich gerade einem Deutschen das erzähle, was ich meinem eigenen Sohn bis heute nicht erzählen konnte."