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Zu Lasten der Schwellenländer

Von Caleb Coppersmith

Gastkommentare

Die den Industrieländern drohende Rezession hätte auch Folgen für andere Weltregionen.


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Irgendwann in den nächsten drei Quartalen dürfte eine stagflationäre Rezession die Industrieländer heimsuchen. Deren Schwäche hätte unterschiedliche Auswirkungen auf die Schwellenländer. Osteuropa und Ostasien würden wohl die Hauptlast des Schocks tragen. Wir sehen allerdings keine Pulverfässer wie 2007/2008, welche die Volkswirtschaften der Industrieländer gänzlich aus der Bahn werfen könnten. Folglich dürfte jeglicher Abschwung, der zu weiten Teilen durch die Geldpolitik herbeigeführt wird, eher wie ein Schwelbrand als wie eine Explosion wirken.

Was die Lage schwieriger macht, sind die Rohstoffpreise, insbesondere bei Energie und Lebensmitteln. Diese dürften durch angebotsseitige Versorgungsschwierigkeiten erhöht bleiben und damit den Inflationsdruck verstärken, auch wenn die Gesamtnachfrage zurückgeht. Chinas Schwäche (die infrastrukturorientierte Konjunkturmaßnahmen ausgleichen könnten) und Russlands Unberechenbarkeit stellen schwer einzuschätzende Risiken dar.

Lateinamerika ist solider als Osteuropa und Ostasien

Unter den Schwellenländern scheinen jene in Lateinamerika im Großen und Ganzen gut aufgestellt zu sein, um den Sturm zu überstehen, da die meisten großen Volkswirtschaften diversifizierte Exportländer sind, die Rohstoffe nach Asien, Nordamerika und Europa liefern. Die große Ausnahme bildet Mexiko, wo das verarbeitende Gewerbe eng in die US-Lieferketten eingebunden ist. Lateinamerika hatte bei der Anhebung der Zinssätze auf globaler Ebene eine Vorreiterrolle: Brasilien hat den ersten Zinsschritt bereits im März 2021 vollzogen - ein ganzes Jahr früher als die US-Notenbank Fed.

Dazu kommen günstige Handelsbedingungen, allgemein flexible Wechselkurssysteme und meist ein geringer mittelfristiger Außenfinanzierungsbedarf. Den rosigen Ausblick könnten allerdings regionale politische Ereignisse (die Wahlen in Brasilien, das Referendum in Chile, die neue Regierung in Kolumbien, instabile Regierungen in Ecuador und Peru) eintrüben.

Anfällig erscheint hingegen Osteuropa. Die Volkswirtschaften selbst der Nicht-EU-Mitglieder sind eng mit den EU-Lieferketten verflochten, fast 90 Prozent der Exporte bleiben auf dem Kontinent. Auch die geldpolitische Positionierung wirkt alles andere als rosig: Während einige Länder, vor allem Ungarn, bei der Anhebung der Zinssätze recht proaktiv oder gar aggressiv vorgingen, fielen weite Teile der Region zurück, sodass ihre Möglichkeiten in einer Krise begrenzt wären.

Selbst in Ländern mit einem gewissen geldpolitischen Spielraum dürfte der Druck auf die Zahlungsbilanz aufgrund schwächerer Exportnachfrage, teurerer Energieimporte und geringerer Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen eine wesentliche Einschränkung darstellen - insbesondere angesichts der relativ hohen Abhängigkeit der Region von Hartwährungen. Ein zusätzliches Risiko birgt die Nähe zum Russland-Ukraine-Konflikt.

Auch auf Ostasien, wo einige der exportabhängigsten Länder der Welt angesiedelt sind, dürften schwierige Zeiten zukommen. Die Ausfuhren nach Europa und Nordamerika machen zwar im Durchschnitt nur etwa 30 Prozent des Gesamtvolumens der Region aus, doch die Komplexität der regionalen Lieferketten wird unterschätzt, da die Waren in mehreren Ländern eine Wertsteigerung durchlaufen, ehe sie schließlich in die Industrieländer verschifft werden. Ein dauerhafter Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise würde zudem die Fundamentaldaten schwächen. Allerdings ist die Inflationsdynamik dort im Allgemeinen harmloser als im Rest der Welt. Eine entscheidende Rolle werden die Entwicklungen in China spielen.

Aber nicht alles erscheint düster. In Osteuropa sind die fiskalpolitischen Kennzahlen solide: Die Schuldenlast der meisten Länder ist überschaubar, und die Finanzierungsbedingungen für einen Großteil der bestehenden Schulden sind günstig, nicht zuletzt dank der Partnerschaft mit der EU samt ihren Finanzierungsmöglichkeiten. Ostasien wiederum finanziert sich fast vollständig über seine hochentwickelten lokalen Märkte. Und jahrelange Leistungsbilanzüberschüsse wirken als Puffer gegen Abwärtsrisiken.

All diese Schlussfolgerungen sind natürlich mit einem erhöhten Maß an Ungewissheit behaftet. Ein starker Rückgang der Rohstoffpreise würde eine völlig andere Gruppe von Gewinnern und Verlierern hervorbringen, wobei die makroökonomische Position mehrerer großer Erzeugerländer alles andere als ideal wäre. Interessanterweise gibt es selbst nach einer Reihe gewaltiger Schocks für die Weltwirtschaft seit 2020 keinerlei Anzeichen für eine drohende regionale Staatsschuldenkrise: Notlagen zeichnen sich nur in vereinzelten Volkswirtschaften ab, deren Kreditrisiken schon lange bekannt sind.