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Wie viel Information kann man veröffentlichen, wenn man vor Terrorismus warnt? Diese Frage stellt Regierungen in unserer bedrohungsschwangeren Zeit vor ein großes Dilemma.
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Terrorismuswarnungen, wie jene des US-Außenministeriums für Reisen nach Europa, sind meist vage. Die Verantwortlichen wollen die Öffentlichkeit warnen, aber ohne den Gegnern zu viel zu verraten. Wie viel Information kann veröffentlicht werden? Diese Frage stellt Regierungen in unserer bedrohungsschwangeren Zeit vor ein großes Dilemma. Für eine Bekanntgabe spricht, dass eine informierte Bevölkerung gezielt wachsamer sein kann, gemäß dem Slogan: "Siehst du was, sag was!" Vage, verallgemeinerte Warnungen hingegen führen entweder zu Gleichgültigkeit (schlecht) oder zu Panik (noch schlechter).
In den US-Geheimdiensten gibt man sich nach wie vor zugeknöpft, wenn es um Details zur Terrorgefahr in Europa geht. Ein Mitarbeiter sagte, dass Al-Kaida die den Medien zugespielten Informationen genau studiere und ihre Pläne danach ausrichte. "Durch die Medien hinken wir ständig hinterdrein", warnte er. Ich verstehe, was er meint, aber wohl nur sehr wenige Menschen können glauben, dass eine uninformierte Bevölkerung sicherer sei.
So sieht die Sache laut in den USA und in Europa veröffentlichten Informationen aus: Die Terrorgruppen arbeiten fleißig daran, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aufgebauten Abwehrmaßnahmen zu durchbrechen. Sie versuchen, Menschen zu rekrutieren, die durch das Netz schlüpfen können, zum Beispiel Deutsche, die mit ihren Pässen problemlos durch ganz Europa und in die USA reisen können. Sie suchen neue Terrormöglichkeiten, wie Anschläge im Stil von Mumbai. Und sie wollen chemische, biologische und radiologische Waffen miteinbeziehen.
Den Ernst der Bedrohung macht ein aktueller Fall klar, nämlich jener von Aafia Siddiqui aus Pakistan, die Al-Kaida angehören soll. Er zeigt, wie schwer es ist, eine gemeinsame Sichtweise zu finden. Am 23. September wurde sie in New York zu 86 Jahren verurteilt, weil sie nach ihrer Gefangennahme im Jahr 2008 US-Bürger, die sie verhören wollten, erschossen hatte. In Pakistan waren die Zeitungen vorige Woche aber voll empörter Kommentare, die sie als unschuldiges Opfer zeigten.
Sieht man sich die Gerichtsunterlagen im Fall Siddiqui an, stößt man auf erdrückende Hinweise auf die Gefahren, denen sich die USA und Europa gegenübersehen - und auch Pakistan. Siddiqui ist, wie so viele andere Al-Kaida-Rekruten im Westen, ein brillanter aber äußerst unzufriedener Mensch. Nach einer Scheidung heiratete die Akademikerin 2003 einen Neffen von Khalid Sheik Mohammed, dem Mastermind der 9/11-Anschläge.
Laut Unterlagen des US-Justizministeriums hatte Siddiqui bei ihrer Verhaftung in Afghanistan Aufzeichnungen bei sich, in denen es unter anderem heißt: "Anschlag mit vielen Verletzten, NY City Denkmäler: Empire State Building, Brooklyn Bridge, Freiheitsstatue etc. Dirty Bomb: einige Unzen radioaktives Material . . . soll Angst machen, nicht viele Tote." Und: "Im Supermarkt Früchte und anderes, was man roh isst, nach dem Zufallsprinzip vergiften. Das würde zwar nicht allzu viele töten, aber Panik, Angst und wirtschaftlicher Schaden könnten beträchtlich sein, wenn man es richtig macht."
Vielleicht sollten diese Aufzeichnungen auch nur Angst machen. Eine bloße Fantastin ist Siddiqui aber nicht: Als man sie erwischte, hatte sie ein Kilo Sprengstoff bei sich. Für Millionen in Pakistan ist sie eine Märtyrerin. Liest man die Gerichtsunterlagen, fragt man sich, wie viele Siddiquis noch herumlaufen. Das weiß niemand.
Übersetzung: Redaktion Originalfassung Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".