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Zu wenig Zeit für Menschlichkeit

Von Matthias Petritsch

Gastkommentare

In den heimischen Pflegeheimen herrschen teilweise besorgniserregende Zustände. Der "Masterplan Pflege" soll Abhilfe schaffen.


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Mit 1. Jänner 2018 wurde in Österreich der Pflegeregress abgeschafft. Seither ist es den Ländern untersagt, auf das Vermögen von Pflegebedürftigen sowie das ihrer Angehörigen zurückzugreifen, um einen Heimplatz zu finanzieren. Der dadurch vielfach erwartete Ansturm auf die Pflegeeinrichtungen ist zwar ausgeblieben, eine erhöhte Nachfrage ist allerdings unübersehbar. Vor allem im Osten des Landes. So registrierte der Fonds Soziales Wien im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr eine rund 30-prozentige Steigerung der Förderanträge, wie eine Sprecherin bestätigt.

Dadurch spitzen sich die strukturellen Probleme im Pflegebereich wie etwa der Mangel an Fachkräften weiter zu. Dieser wird durch 122 Besuche der Opcat-Kommissionen im vergangenen Jahr dokumentiert, bei denen die unzureichende Personalausstattung häufig Gegenstand kritischer Anmerkungen war (seit 2012 kontrollieren diese Kommissionen präventiv staatliche und private Einrichtungen, in denen es zum Entzug oder zur Beschränkung der Freiheit kommen kann, Anm.). "Gerade im Nachtdienst finden Kommissionen Besetzungen vor, die von Aufsichtsbehörden zwar toleriert werden, aber dennoch bedenklich knapp erscheinen", heißt es im jüngsten Bericht der Volksanwaltschaft an den Nationalrat und an den Bundesrat (Band Präventive Menschenrechtskontrolle).

Große physische und psychische Belastungen

In Wien gibt es zudem zahlreiche Einrichtungen, die stationäre Pflegeplätze mit angeschlossenem Betreuten Wohnen anbieten. In diesen Häusern müssen die in der Nacht Diensthabenden oftmals die Versorgung der Wohnbereiche zusätzlich übernehmen.

Die Folgen sind große physische und psychische Belastungen und damit verbunden teilweise hohe Personalfluktuation in den Betreuungseinrichtungen. Dennoch sind regelmäßige Teambesprechungen oder Supervision keine Selbstverständlichkeit. Einzelsupervision wird oft gerade Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteigern vorenthalten. Jener Gruppe also, die derartige Angebote am dringendsten benötigen würde.

All diese Punkte führen immer häufiger zu einem vorzeitigen Berufsausstieg, erhöhen die Burn-out-Gefahr der Betroffenen und können zur Entwicklung von struktureller Gewalt in den Einrichtungen beitragen, wo es oftmals an Konzepten zum Umgang mit dieser fehlt. Einige der im Zuge von Opcat-Besuchen befragten Pflegekräfte gestanden sogar ein, dass aufgrund des hohen Zeitdrucks Handlungen oder Unterlassungen in Kauf genommen werden, die dem Berufsethos zuwiderlaufen.

Zeit für unmittelbare Zuwendung fehlt

Nicht selten sind in den Pflegehäusern gegen 18 Uhr kaum noch Pflegebedürftige außerhalb ihrer Zimmer anzutreffen. Dem nicht genug, bleibt aufgrund der systematischen Dokumentation des individuellen Pflegebedarfs auch tagsüber immer weniger Zeit für die persönliche Betreuung. So müssen etwa die Medikamentengebarung oder freiheitsbeschränkende Maßnahmen umfassend dokumentiert, Sturz- und Gewichtsprotokolle geführt und im Zuge von Dienstübergaben besprochen werden. Wichtige Aufgaben einer Pflegefachkraft, die bei Opcat-Besuchen zu Recht penibel überprüft werden. Allerdings Zeit, die im Falle von Personalknappheit für die unmittelbare Zuwendung fehlt.

Viele Einrichtungen sind stolz auf ihre großzügigen Gärten oder wohnlich gestalteten Gemeinschaftsräume. Häufig fehlt es jedoch an ausreichendem Personal, das die Betroffenen dabei unterstützt, dorthin zu gelangen. Dabei ist die Mobilisierung gerade bei Personen mit kognitiven Störungen (Demenz) essenziell, um das Fortschreiten der Krankheit hinauszuzögern. Laut einer Studie der Donau-Universität Krems weisen 85 Prozent aller Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner in Österreich demenzielle Erkrankungen auf. Damit verbunden ist oftmals ein hoher Bewegungsdrang. Vor allem in den Abend- und Nachtstunden. In einem Wiener Pflegeheim wurde dazu das Projekt "Nachtschwärmer" initiiert, das für Ruhelose viermal pro Woche Aktivitäten bis 21 Uhr anbietet.

Theorieversus Praxis

Kernaufgabe des Pflegepersonals sollte es sein, die Bewohnerinnen und Bewohner so lange wie möglich mobil zu halten. "Dabei können Bewegungsübungen, bei denen Routinehandlungen wie etwa alltagsorientierte Gehübungen systematisch trainiert werden, zu einer deutlich spürbaren Mobilitätsverbesserung beitragen", betont der Geriater Thomas Frühwald.

So weit die Theorie. Die Realität sieht in einigen Häusern leider häufig anders aus. Die Tagesstruktur der Pflegebedürftigen geht in den Einrichtungen teilweise vollständig verloren. Das Krankheitsbild verschlechtert sich dadurch oft rapide. Und das trotz des Großteils aufopferungsvollen Pflegepersonals. Frühwald zeigt sich auch besorgt über jene Eingriffe an Patientinnen und Patienten, die aus medizinischer Sicht nicht notwendig sind und nur zur Erleichterung der Pflege vorgenommen werden. Als typisches Beispiel nennt er den Harnkatheter, hat dieser doch fast zwangsläufig eine Harnwegsinfektion zur Folge. Aus medizinischer Sicht sollte er daher ausschließlich dann gesetzt werden, wenn die Blase nicht mehr entleert werden kann. Im Pflegebereich gelangt er aber vor allem deshalb zum Einsatz, um die Betroffenen nicht zur Toilette begleiten zu müssen.

Bis dato ist es trotz politischer Bemühungen nicht gelungen, umfassende Lösungen dieser Strukturprobleme herbeizuführen. Im Dezember 2018 legte die (alte) Bundesregierung einen "Masterplan Pflege" vor, mit dem die Voraussetzungen für eine hochwertige Pflege geschaffen werden sollen. Ebenfalls wurde das neue Gesundheitsberuferegister eingeführt, in das Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe sowie der gehobenen medizinisch-technischen Dienste eingetragen werden. Diese Registrierung ist Voraussetzung für die jeweilige Berufsausübung, wobei die Erfassung des Bestandes bis Jahresende abgeschlossen sein soll. "Ziel ist es, die Angehörigen der betreffenden Gesundheitsberufe zahlenmäßig zu erfassen, in weiterer Folge die Gesundheitsplanung beim Erkennen von Versorgungslücken zu unterstützen sowie die Qualifikation der Berufsangehörigen transparent zu machen", heißt es dazu bei der Gesundheit Österreich GmbH.

Anzahl derHochbetagten steigt

Fest steht: An einer umfassenden und wohl auch kostenintensiven Reform des stationären und mobilen Pflegebereiches führt kein Weg vorbei. Aktuelle Statistiken prognostizieren allein der Stadt Wien in den nächsten zehn Jahren eine Zunahme der hochbetagten Bevölkerung - also der über 80-jährigen - von rund 50 Prozent. Zur Frage der Pflegefinanzierung künftiger Generationen wollte die kürzlich gescheiterte Regierung noch heuer Antworten liefern. Auch die neue wird darum früher oder später nicht herumkommen. Zumindest bis dahin bleiben schwierige Arbeitsbedingungen, der Mangel an (diplomierten) Fachkräften und all die damit verbundenen negativen Auswirkungen im Bereich der stationären Altenpflege aber wohl bittere Realität.