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Zugriff in letzter Sekunde

Von Alexander U. Mathé und Michael Schmölzer

Europaarchiv

Französischer Geheimdienst hatte religiösen Fundamentalisten im Visier.


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Toulouse/Wien. Die ersten Schüsse krachen um drei Uhr Früh durch die Türe von Mohammad Merah. Schwer bewaffnet verschanzt sich der 24-jährige Franzose algerischer Abstammung in seiner Wohnung. Er steht in Verdacht, sieben Menschen kaltblütig erschossen zu haben. Als sich die Polizisten seinem Appartement nähern, schießt Merah durch die geschlossene Türe - zwei Beamte gehen verletzt zu Boden. Der eine hat eine zerschmetterte Kniescheibe, den anderen schützte seine kugelsichere Weste. Die Nachbarschaft wird evakuiert.

Das Szenario wie aus einem Thriller spielt sich nur drei Kilometer Luftlinie von der jüdischen Schule ab, in der am Montag ein Rabbiner, zwei seiner Söhne und ein Mädchen gezielt erschossen wurden. Nur wenige Tage vorher waren in Toulouse und Umgebung drei Soldaten nordafrikanischer und karibischer Herkunft getötet worden.

Das Waffenarsenal Merahs ist beeindruckend. Er verfügt über automatische militärische Waffen, eine Kalaschnikow und eine Uzi, berichtet Innenminister Claude Guéant direkt am Einsatzort. Waffen, die für ein wirkungsvolles Töten im Krieg gemacht sind. Der mutmaßliche Killer hat in einem in der Nähe des Hauses geparkten Wagen weitere Waffen gehortet. Die Sicherheitskräfte gehen davon aus, dass es Mohammed Merahs Bruder - der angeblich den radikal-islamischen Salafisten nahesteht - gehört.

Nach dem gescheiterten Versuch vor der Wohnung Mehras umstellen und belagern die Polizisten das Haus Nummer 17 in der Rue du Sergent Vigne. Sie wollen den Täter unbedingt lebend, um ihn befragen zu können und den Hintergrund der Mordserie von Toulouse aufdecken zu können. Verbindungen zu allfälligen Hintermännern und Organisationen wie der Al-Kaida sollen überprüft werden, der Merah angibt anzugehören.

Mutter will nicht

vermitteln

Die Polizei nimmt Kontakt zu dem Verdächtigen auf, den dieser zeitweise abbricht. Der mutmaßliche Täter, dessen Bruder festgenommen wurde, scheint nur schwer zugänglich zu sein. Also setzt die Polizei auf die Mutter des Verdächtigen. Sie wird ausfindig gemacht und geholt, damit sie ihren Sohn zur Aufgabe bewegt. Allein: "Sie wollte nicht mit ihrem Sohn in Kontakt treten, da sie kaum noch Einfluss auf ihn habe", erklärt Guéant.

Der Tatort wird weiträumig abgeriegelt, Sanitätsfahrzeuge sowie Polizisten mit Hunden sind vor Ort, Polizisten mit schusssicheren Westen und Helmen patrouillieren im Viertel. Ganz Frankreich starrt gebannt auf die TV-Bildschirme. Der Mann wollte noch am Mittwoch wieder zuschlagen, hieß es. Im Visier hatte er erneut einen Soldaten, dessen letztes Stündlein in der Früh schlagen hätte sollen, informiert Präsident Nicolas Sarkozy. Zwei Polizisten standen ebenfalls auf seiner Abschussliste, sagt der leitende Staatsanwalt. Alle drei waren bereits von Merah identifiziert.

Die Nerven liegen blank, Medien melden die Festnahme des Verdächtigen, das Innenministerium dementiert: "Die Verhandlungen dauern noch an."

In Afghanistan aus

Gefängnis ausgebrochen

Wer ist der Mann, der eine ganze Nation über Tage in Atem hält? Der Verdächtige reiste in der Vergangenheit mehrfach in das pakistanisch-afghanische Grenzgebiet, das als Hochburg von Al-Kaida gilt. In der südafghanischen Provinz Kandahar wurde der mutmaßliche Todesschütze 2007 wegen Bombenlegens zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Nur wenige Monate später entkam Merah bei einem Massenausbruch, wie der Chef der Haftanstalt in Kandahar, Ghulam Farouk, erzählt. Damals sprengten Kämpfer der radikal-islamischen Taliban das Tor der Anstalt und befreiten bis zu 1000 Häftlinge.

Merah kehrte nach Frankreich zurück und wollte Fremdenlegionär werden. Doch die französische Eliteeinheit lehnte ihn wegen psychischer Probleme ab. Sie sollte recht behalten. Er wolle ein Gotteskrieger sein, ist gegen den Nato-Einsatz Frankreichs in Afghanistan und will den Tod palästinensischer Kinder rächen, sagt er am Mittwoch den Beamten. Zwei der drei getöteten Soldaten waren Moslems aus dem maghrebinischen Raum. Der mutmaßliche Attentäter habe sie für den Einsatz in Afghanistan bestrafen wollen, erklärt er stolz. Auf dem Radar des Geheimdiensts ist er, seit er zurück in Frankreich ist, was nun Kritiker zur Frage bewegt, wie es mit dem Mann trotzdem soweit hat kommen können. Doch Verteidigungsminister Gérard Longuet winkt ab. Außer, wenn Frankreich in einen Polizeistaat verwandelt würde und sein eigenes Guantanamo errichte, könne man nicht jeden verhaften, der aus einer Terrorzone komme.

Nun rühmt sich Merah, Frankreich in die Knie gezwungen zu haben - sehr zur Überraschung seines langjährigen Anwalts. Der junge Mann sei immer "höflich" gewesen, sagte Christian Etelin, der den Verdächtigen in einer Reihe von Strafsachen seit 2004 vertreten hat, vor allem wegen Handtaschen-Diebstahls. Zuletzt sei es um eine Führerscheinsache gegangen. Er habe Merah als einen Mann mit "weichen Verhalten", "zivilisiert" und "nicht starr" erlebt, sodass er nie an Fanatismus gedacht hätte. Der mutmaßliche Serientäter habe in seinem Beisein auch nie über den Islam gesprochen, doch habe er vor zwei Jahren mitbekommen, dass der junge Mann sich "plötzlich radikalisiert" habe und nach Afghanistan gereist sei.

Auf die Spur Merahs gelangte die Polizei über die Internetadresse seines Bruders. Über die soll er auf eine Internetanzeige des ersten Opfers geantwortet haben. Der Soldat nordafrikanischer Abstammung wollte sein Motorrad verkaufen und wurde bei einem Treffen mit dem vermeintlichen Käufer hingerichtet. Unterwegs war der Mörder auf einem Motorroller der Marke Yamaha, den Zeugen beschreiben konnten. Die Ermittler befragten alle Yamaha-Händler der Region zu dem Modell T-Max 530 und fanden einen, der von der verdächtigen Nachfrage eines Mannes berichtete. Dieser habe sich erkundigt, wie der Chip aus dem Motorroller entfernt werden könne, mit dem das Fahrzeug bei Diebstahl lokalisiert werden kann.

Schließlich meldete sich Merah am Mittwoch um ein Uhr Früh bei einer Journalistin des Fernsehsenders "France 24". Elf Minuten lang soll der Täter der Chefredakteurin Details seiner Taten berichtet haben. Die Journalistin berichtete, der Mann habe sich als der gesuchte Serientäter ausgegeben und unter anderem die Zahl der Kugeln genannt, die er bei seinen drei Taten abgefeuert habe. "Er hat gesagt, dass er zu Al-Kaida gehört und dass das nur der Anfang ist", fügte sie hinzu. Zudem habe er angemerkt, dass "alles gefilmt wurde" und "bald" zu sehen sein werde. Am Ende habe der Mann "nett auf Wiedersehen" gesagt.

Zwei Stunden später steht die Polizei vor seiner Tür. Während die Beamten mit ihm verhandeln, beobachten sie ihn mit Infrarot-Scannern, wissen stets, wo er sich aufhält. Immer wieder kommt im Laufe des Tages die erlösende Parole: "Er ist gefasst", nur um umgehend dementiert zu werden. Schließlich die Meldung: Mittwochabend will sich Mohammed Merah der französischen Polizei ergeben.