Zum Hauptinhalt springen

Zuhause und auf der anderen Seite

Von Christine Zeiner

Politik

Wechselspiel: Mexikaner brauchen Geld, US-Amerikaner billige Arbeitskräfte. | Oaxaca. Wer auch zu den Fiestas nicht zurückkommt, schickt Geld - oder ist tot. Der Grenzübertritt ist gefährlich. Manche verdursten. In der Wüste hat es bis zu 50 Grad Celsius. Andere verirren sich in den Bergen. Manche Mexikaner versuchen in einem der Flüsse in die USA, "auf die andere Seite", zu gelangen - und ertrinken.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Die meisten aus unserem Dorf sind auf der anderen Seite", sagt der Bürgermeister von Santa Maria Natividad. "Hier leben nicht mehr viele. Alles, was arbeiten kann, wird den USA geschenkt." Sein Amtskollege vom wenige Kilometer entfernten Ixpantepec Nièves stimmt ihm zu und sagt: "Langsam verwandeln wir uns in ein Geisterdorf."

Beide Dörfer befinden sich in der Mixteca im Bundesstaat Oaxaca. Millionen Kakteen ragen gen Himmel. Die kargen Gebirgszüge scheinen endlos. Einst war die Mixteca reich an Bodenschätzen und Wäldern. Nach und nach beuteten Spanier das Land aus, holzten die Wälder ab, pflanzten Weizen. Die Felder der Indigenen, auf denen gemeinsam Mais, Bohnen und Kürbis wachsen, wichen der Monokultur, so wie die Indigenen den Spaniern wichen. Sie zogen in die unwirtlichen Hügellagen.

"Armut und Hunger zwingen uns zum Abenteuer Migration. Viele kommen tot zurück", sagt der Bürgermeister von Ixpantepec Nièves. Von ihren Erträgen könnten die Dorfbewohner nicht leben. Das ist nicht eine Folge des Bodens allein.

Billiger Mais

Der Mais der Indigenen ist mit Industrieware nicht konkurrenzfähig. "Uns fehlt Regen - oder das Geld für Bewässerungsanlagen. Dünger können wir uns meist nicht leisten", sagen die Bürgermeister. Am 1. Jänner 1994 trat das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada in Kraft, und die mexikanische Regierung baute schrittweise Subventionen und Zölle ab. US-Mais wurde weit billiger als mexikanischer: Der durchschnittliche Ertrag pro Hektar sei in den USA viermal so hoch wie in Mexiko, schreibt Christof Parnreiter von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Produktionskosten für eine Tonne kommen in den USA auf die Hälfte.

Wettbewerbsvorteile gibt es nicht nur beim Mais - wobei die US-Unternehmen auf die billige und flexible Arbeitskraft der ausgewanderten Mexikaner angewiesen sind. Tonnenweise ernten sie Erdbeeren, Salat, Tomaten.

Man müsse die künftigen Arbeiter darüber aufklären, dass sie frisch gespritztes Obst nicht essen dürfen, sagt ein Mitarbeiter der Frente Indígena Oaxaqueña Binacional. Die Organisation hilft den Migranten, etwa wenn der Lohn nicht ausbezahlt wird.

Rafael hat sich selbst durchgeschlagen. "Die Arbeit ist sehr hart. US-Amerikaner machen sie nicht - und schon gar nicht für diesen Lohn." Der Mixteke ist 19 Jahre alt. Monatelang schnitt er bei Sonne, Regen und Schnee Bäume in Texas und New Mexico. Die Motorsäge und das Öl musste er kaufen. Helm und Stiefel erhielt er vom Unternehmen. Nein, Englisch habe er nicht gelernt. Dafür sei keine Zeit geblieben. Fünf seiner acht Geschwister arbeiten in den USA und schicken Geld für das Haus und die Lebensmittel der Familie. Für den Grenzübertritt seiner Schwester, die als Küchenhilfe arbeitet, musste die Familie 3000 US-Dollar an die Schlepper zahlen. Nach einer Woche sagte sie, sie hielte es nicht mehr aus. "Im Norden leidet man", sagt Rafael.

Entwurzelt

Auch die Dorfgemeinschaft leide, sagt der Bürgermeister von Santa Maria Natividad. "Wir versuchen Kontakt zu halten. Und wir versuchen herauszufinden, wer Arbeit oder ein Amt übernehmen könnte." Nach indigener Tradition werden Straßen, Wege oder Gemeinschaftsbauten zusammen errichtet und saniert. Auch für die Ämter gibt es anstelle von Geld Ehre. Die Kinder derer, die jahrelang in den USA gearbeitet haben, fangen mit dem Leben in den Dörfern wenig an. "Sie sprechen kaum noch unsere Sprache. Ihnen schmeckt unser Essen nicht und sie mögen unsere Kleidung nicht", sagt ein Mann. "Wir würden unsere Jungen davon abhalten, in die USA zu gehen", sagt er. Nach einer Pause fügt er hinzu: "Aber gibt es denn hier eine Perspektive?"