Das Krisenmotto: Offiziell diplomatisch, inoffiziell verharmlosend.
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New York/Washington. Ein Treffen unter Freunden mit Meinungsverschiedenheiten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. So erklärt Jay Carney, der Sprecher von US-Präsident Barack Obama, der amerikanischen Öffentlichkeit den Empfang der 23-köpfigen EU-Delegation in Washington D.C., die dort insgesamt drei Tage lang, bis heute, eine Handvoll Ministerien besucht, mit ein paar Politikern und Geheimdienstlern redet und im Weißen Haus vorstellig werden darf. Wichtig, wegen der traditionell guten Beziehungen, und nötig, wegen der Irritationen, die da in den vergangenen Wochen hochkamen. Jay Carney kann nichts dafür, er macht nur seinen Job. Seine Worte sind wohl gewählt, von Respekt ist die Rede (ganz viel und gegenseitigem), von Sorge (beiderseitiger), von den Problemen (aller Beteiligten), die es auszuräumen gilt. Über die man aus europäischer Sicht reden muss, weil es nicht mehr anders geht: Das sagt Jay Carney nicht, auch wenn es so ist, ganz unter Freunden.
Während sich Europas Politiker und Medien in Empörung und Schuldzuweisungen ergehen, übt sich das offizielle Amerika in Beschwichtigung. Motto: Alles halb so wild. Ja, das mit Angela Merkels Handy sei wirklich ein bisschen unangenehm, aber . . .
Tatsächlich unterscheidet sich die Wahrnehmung der NSA-Affäre auf Täterseite fundamental von jener der Opfer. Die Faktoren, die diesen gänzlich anderen Blick auf die Dinge erklären, sind so vielfältig wie großteils historisch begründet, finden sich in der jüngeren Vergangenheit wie in der des 20. Jahrhunderts. Und inoffiziell (Demokraten) wie teilweise on the record (Republikaner) geben deshalb nicht wenige Repräsentanten der US-Regierung wie der Geheimdienste ihrer Verwunderung über den Grad der Aufregung der Europäer Ausdruck, weil die Europäer doch prinzipiell wissen müssten, wie es um die globalen Machtverhältnisse steht und das nicht umsonst und nicht erst seit gestern. Die politische Dimension, nach US-Lesart: Seit dem Zweiten Weltkrieg bilden die "Five Eyes" - die angelsächsische Allianz der USA mit Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland - das Rückgrat der weltweiten Überwachungsmaschinerie des Westens. Nach der Niederlage Nazi-Deutschlands änderte sich die Bedrohungslage, nun galt es den sowjetischen Beelzebub und seine ost- und südosteuropäischen Satelliten (und später China) in Schach zu halten. Nach 1989 änderte sich aus kontinentaleuropäischer Sicht alles, aber die USA (und mit ihnen die Briten) blieben misstrauisch - und fühlten sich keine zwölf Jahre später in ebendiesem Skeptizismus bestätigt, nachdem klar geworden war, dass die Attentäter des 11. September 2001 ihre Angriffspläne zu einem Gutteil in einer Hamburger Moschee ausarbeiteten; unbehelligt von lokalen Geheimdiensten wie dem Bundesnachrichtendienst oder dem deutschen Verfassungsschutz.
Unmittelbar nach 9/11 beschloss die US-Regierung unter George W. Bush den sogenannten "Patriot Act", der praktisch jede Art von Beschnüffelung im In- und Ausland politisch legitimierte. Was die Enthüllungen von Edward Snowden heute zutage fördern, stellt eindrucksvoll die Folgen dieses Gesetzeswerks dar, das der Willkür Tür und Tor geöffnet hat. Die Arbeit der Geheimdienste, allen voran der NSA, handelt seither dementsprechend gemäß dem Motto: Wir können nicht nur, wir dürfen auch - also tun wir alles, was in unserer Macht steht, ob sinnvoll oder nicht. In diesem Zusammenhang kommt auch die kaum zu unterschätzende wirtschaftliche Dimension des US-Spionagetums ins Spiel.
Auf beiden Seiten des Atlantiks beherrscht seit 2008 die Wirtschafts- und Finanzkrise die Agenda der Regierungen. Weil die heimischen Märkte der USA und Europas in ihren Wachstumsmöglichkeiten beschränkt sind, fokussiert sich alles auf den Rest der Welt, allem voran auf China. Kein ernst zu nehmender US-Politiker - und daraus ist auch die Zurückhaltung amerikanischer Volksvertreter zu erklären, wenn es um "Entschuldigungen" geht - macht sich in diesem Zusammenhang Illusionen: Es geht um Wettbewerbsvorteile, und wenn das, was Angela Merkel ihrem Ehemann am Handy erzählt oder wenn wieder einmal eine WTO-Runde ansteht, nämliche verspricht, ist es aus mit der Freundschaft.
Zugute kommt den Amerikanern diesbezüglich eine - abgesehen von ein paar Tausendschaften an Bürgerrechtsaktivisten und ein paar Hollywood-Schauspielern - legendär apathische Öffentlichkeit, deren Sensibilität für den Schutz ihrer Daten und ihrer Privatsphäre ungefähr so ausgeprägt ist wie jener der Waffenlobby alias National Rifle Organisation für die toten Kinder des Massakers von Newtown.
Kein Schuss ins eigene Knie
Was wird von der NSA-Affäre bleiben? Aus US-Sicht: von ein paar transatlantischen Verstimmungen abgesehen gar nichts. Europa sind die Hände gebunden. Nachdem sämtliche Maßnahmen, die sich als Sanktionen eignen würden - Stichworte Swift- und Freihandelsabkommen -, im Fall der Blockierung auch der eigenen Wirtschaft schaden würden, haben die Europäer praktisch keine Druckmittel; ihnen bleiben einzig symbolische Akte, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Am Ende wird man befreundet bleiben, trotz aller Meinungsverschiedenheiten. Und die Freundschaft aufrecht erhalten, auch wenn der eine weiterhin immer wissen wird, was der andere tut und warum.