Dank der neuen und noch nicht voll im reflexhaften, undifferenzierten Denken vieler ÖVP-Funktionäre verhafteten Wissenschaftsministerin ist die Diskussion über die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen wieder in Gang gekommen. Sie stößt damit auf massiven Widerstand in ihrer Partei, aber auch auf eine ebenso massive, reflexartige, undifferenzierte Zustimmung in der SPÖ, die die Komplexität eines derartigen Modells nicht erkennen will.
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Worum geht es wirklich? Um nicht mehr und nicht weniger als die Sicherung unseres langfristigen Wohlstands durch eine volle Mobilisierung des Österreich zur Verfügung stehenden Humankapitals. Heute liegt ein beträchtlicher Teil davon brach, nämlich das Potenzial junger Menschen, die hauptsächlich wegen ihrer Herkunft, ihres familiären Hintergrunds, teilweise auch aus pekuniären Gründen nicht ihren Fähigkeiten entsprechend ausgebildet werden. Gleichzeitig werden weniger Begabte oder Engagierte mit kostspieligem Nachhilfeunterricht zur Matura "gepeitscht".
Fakt ist, dass es in den meisten europäischen Staaten eine "Gesamtschule" weit über die Altersgrenze von zehn Jahren hinaus gibt und Österreichs Schulsystem zu den teuersten zählt, aber nur mittelmäßige Ergebnisse bringt. Und es ist offensichtlich, dass der Übergang zur Gesamtschule in Wahrheit ein Problem der Hauptstadt Wien mit ihren durch fehlende beziehungsweise verfehlte Integrationspolitik herabgewirtschafteten Hauptschulen ist.
Es geht daher nicht um Gesamtschule ja oder nein, sondern um Gesamtschule wie? In Gebieten mit leistungsfähigen Hauptschulen ist ein Übergang, abgesehen von organisatorischen und dienstrechtlichen Fragen, unproblematisch. In Wien (und Teilen anderer städtischer Agglomerationen) dagegen bedarf es einer grundlegenden Neuordnung des Schulsystems für 10- bis 14-Jährige, eingebettet in ein modernes Integrationskonzept.
Stichworte sind dabei: Sicherstellung der Beherrschung der deutschen Sprache, Angebot einer Nachmittagsbetreuung durch Lehrer und qualifizierte Mitschüler zur Erledigung der Hausaufgaben und zur Beseitigung individueller Lernschwächen, aber auch für die Organisation von Freizeitaktivitäten, besondere Förderung von hochbegabten Schülern und - last, but not least - die Durchforstung und Modernisierung der Lehrpläne sowie die intensive Nutzung moderner Medien und Lehrmethoden.
Der Übergang zur Gesamtschule unter welcher Bezeichnung auch immer ist eine wirtschaftliche und integrationspolitische Notwendigkeit. Er kann nur stufenweise je nach regionalen Gegebenheiten vor sich gehen und wird Jahre in Anspruch nehmen. Er wird erhebliche zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen erfordern. Und die Lehrkräfte werden einen größeren Teil ihrer Arbeitszeit in der Schule verbringen müssen.
Erhard Fürst war viele Jahre Leiter der Abteilung Industriepolitik und Wirtschaft in der Industriellenvereinigung.