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Es will mir fast unglaublich erscheinen. Knapp 20 Jahre habe ich in Wien gelebt - also gut, es waren nur 19 -, und jeden Sommer bin ich zum Schwedenplatz hinunter gedüst, um dort ein Stanitzerl Mango-Eis zu erwerben. Aber kein einziges Mal bin ich dabei auf die Idee gekommen, den Schwedenplatz irgendwie mit meiner Mutter in Verbindung zu bringen. Seit einigen Wochen weiß ich, dass es anders ist. Und ich besitze Fotos, die es beweisen. Sie zeigen meine Mutter beim Schwimmen in Schweden. Genauer: am Wasser, kurz vor dem Schwimmen. Die Fotos sind 90 Jahre alt, und was mich persönlich dabei umhaut, ist, dass ich sie zeitlebens noch nicht gesehen habe. Ich bin mittlerweile 63, und sehe diese Fotos zum ersten Mal!
Aber, um zu erklären, was es damit auf sich hat, muss ich Sie bitten, mit mir in die mittlere Tiefe der österreichischen Geschichte einzutauchen. Der Erste Weltkrieg, 1914-18, die absolute Katastrophe. Österreich und Deutschland liegen zerstört am Boden. Und nicht nur sie - die ganze Welt hat massiv gelitten. Dann, in den Zwanzigerjahren, die große Pleite. Das Geld stirbt. Verbreitete Hungersnot. Wiener Bürger reißen berittene Polizisten vom Pferd, schlachten das Tier auf der Straße, rennen mit dem blutigen Fleisch nach Hause zu den Kochtöpfen.
Bereits 1919 hat Schweden, das vom Krieg relativ verschont geblieben ist, Österreich angeboten, man möge doch die Kinder nach Schweden schicken. Sie sollen den Sommer bei kinderreichen Familien auf dem Land verbringen. Gut essen, Sonnenschein genießen, gesund werden. Dieser schwedischen Kinderhilfe zum Gedenken ist der Schwedenplatz eben so benannt worden.
Ein Kinderleben
Meine Mutter, geboren im dritten Wiener Gemeindebezirk, Klimschgasse, ist Jahrgang 1910. Als die schwedische Kinderhilfe beginnt, ist sie knapp neun Jahre alt. Das erste Foto von ihr aus Schweden zeigt sie als kleines Mädchen, sie ist neun oder zehn. Ich weiß es nicht genau, denn meine Mutter hat nie etwas über ihre Zeit in Schweden erzählt. Oder über ihre Zeit in Wien, oder über ihre Zeit in der Türkei. Über ihr gesamtes Leben. Ich kenne Dutzende von Episoden aus dem Leben meines Vaters, über meine Mutter weiß ich so gut wie nichts.
Aber zufällig sieht sie auf diesen Kinderfotos meiner älteren Tochter - ihrer Enkelin, die sie nie kennen gelernt hat - recht ähnlich. Ich rekonstruiere anhand der Kindheit meines Kindes die Kindheit meiner Mutter. Die nächsten Fotos zeigen dieses Kind (meine spätere Mutter) im Alter von 11, 12, 13, 14 - wir sprechen also von den Jahren 1921 bis 1924.
Die schwedische Familie, vielleicht eine Bauernfamilie, scheint wohlhabend gewesen zu sein. Sie besitzt ein großes Auto, möglicherweise auch einen Chauffeur, und zu Beginn zwei Töchter, dann ein Baby; dann ist das Baby größer, und es ist ein weiteres dazugekommen.
Dann plötzlich, meine Mutter ist schon ein Teenie geworden, und die Kinder sind nicht mehr am See, sondern es liegt überall Schnee, und alle tragen große Fellmützen. Man hat Rodelschlitten einer merkwürdigen Bauart: Einer sitzt vorne auf dem Stuhl, einer steht hinten und schiebt.
Jahrelang ist also meine Mutter von Wien bis nach Irgendwo in Schweden mit der Bahn gereist, Sommer und Winter, laut Google Map sind das rund 2000 Kilometer. Ich denke, das wird eine urlange Bahnfahrt gewesen sein, vom Westbahnhof bis etwa Stockholm. Vielleicht sind die Kinder im Kontingent gefahren, und wurden dann in Schweden abgeholt und aufgeteilt.
Meine Mutter ist offenbar auch in Schweden zur Schule gegangen, denn ich besitze jetzt ein Foto, circa aus dem Jahr 1921, das sie in einer Schulklasse zeigt, als eine von 23 hübschen kleinen Mädchen, frech, selbstbewusst, und man erkennt: Schon damals hielten diese Kinder hinter ihren Mitschülerinnen für die Kamera verstohlen die Finger zu Hasenohren hoch. Meine Mutter trägt eine Schleife am Kopf, wie Daisy Duck, das war wohl damals Mode. Dahinter stehen drei Lehrerinnen, die irgendwie aussehen, als wären sie miteinander verwandt.
Zufälle des Lebens
Als ich 1988 nach Wien kam, als Sohn einer Wienerin, die nie ein Wort über Wien verloren hatte, hatte ich mehr als 20 Jahre lang bereits mit großer Leidenschaft Wiener Literatur in mich aufgesogen. Trotzdem war meine Ankunft in Wien vom Zufall diktiert, und auch die Geburt meiner Wiener Tochter direkt neben der Klimschgasse, keine 100 Meter entfernt von der Wohnung, in der meine Großmutter ihr ganzes Leben verbracht hatte, war Zufall. Sofern man an Zufälle glauben möchte.
Aber lassen Sie mich hier einen Sprung machen. Da stehen wir nun mit einer Gruppe von jungen Frauen am Wasser. Ich vermute, dass dieses Foto ebenfalls in Schweden aufgenommen worden ist, vor allem, weil die Mädels auch einen etwas älteren "Anstandswauwau" dabei haben. Andererseits könnte das Bild auch an der Donau aufgenommen worden sein. Aber ich weiß, dass diese Mädels einige der Mit-Maturantinnen meiner Mutter von der BEA sind, um 1928.
Ich weiß es, weil ich vor 20 Jahren zufällig ein paar Fotos in die Hände bekam, von einem Klassentreffen aus dem Jahr 64 oder 65. Diese Frauen, alle Mitte 50, sitzen in einem undefinierbaren Café oder Restaurant in Wien, und betrachten gemeinsam ein Buch der Bestseller-Autorin Joy Adamson, das in mehrfacher Ausgabe auf den Tischen liegt: "Frei geboren. Eine Löwin in zwei Welten" Und noch einen weiteren Band über die Löwin Elsa, der damals gerade verfilmt worden war, hat Adamson geschrieben. Als ich, Anfang der Neunzigerjahre, der Geschichte nachging, erfuhr ich, dass Joy Adamson, als sie noch Fifi Gessner hieß, eine Mitschülerin dieser Frauen gewesen war. Sie wird ihnen wohl die Belegexemplare geschickt haben. Persönlich war sie bei dem Klassentreffen allerdings nicht anwesend.
Ich traf dann eine dieser Damen, damals schon über 80, in Wien, und sie gab mir ein Foto aus ihrer Schulzeit, aufgenommen 1925. Fifi Gessner fehlte darauf, sie hatte die Schule bereits verlassen. Aber es war für mich etwas irritierend, meine eigene Tochter mit langen Zöpfen als Fünfzehnjährige in einer Wiener Schulklasse der Zwanzigerjahre zu sehen.
Unmöglich, denn ich wusste, dass sie 1975 in Auckland in Neuseeland geboren wurde. Aber es war ja gar nicht meine Tochter, es war meine Mutter. Von diesem Foto ausgehend - einem Foto, das ich zuvor auch nie gesehen hatte -, konnte ich nun ihre Mit-Maturandinnen auf dem schwedischen Bade-Bild wieder erkennen. Hier fehlt meine Mama. Sie stand wohl hinter der Kamera.
Jedenfalls spannt sich so ein Bogen über die gesamten Zwanzigerjahre, über viele Sommer und Winter, in denen meine Mutter nach Schweden fuhr, und wohl auch etliche ihrer Freundinnen dorthin mitgenommen hat. Als sie 1929 in Wien zu studieren begann, besaß sie bereits ein Übersetzer-Diplom für Schwedisch. Sie hätte, 1935, nach ihrem Studium, wieder nach Schweden gehen können, und hätte den "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland, und den ganzen Zweiten Weltkrieg relativ ungeschoren überleben können, und ich wäre heute ein Schwede. Stattdessen ging sie nach England, dann in die Türkei, schüttelte angeblich sogar Atatürk noch die Hand, bevor der das Zeitliche segnete. Und sie erlebte offenbar genügend Traumatisches, um ihr gesamtes früheres Leben in einen Karton zu packen und wegzustecken.
Aber die schwedische Verbindung riss nie ganz ab. Als sie mit mir schwanger war (ich bin im März 1948 in Berlin geboren), schickten ihr die schwedischen "Verwandten" regelmäßig Postpakete mit Konserven, Milchpulver, Fleisch - alles Mögliche, was eine Schwangere brauchen könnte. Die Folge war, dass ich bei der Geburt ein Lebendgewicht von fünf Kilo auf die Waage brachte. Die Leute im Krankenhaus, so wurde mir später des Öfteren berichtet, hätten gestaunt. "Das ist kein Baby, das ist ein Mastkalb!" soll einer der Ärzte ausgerufen haben. Offenbar hatte es in Berlin in den ganzen Vierzigerjahren kein solch fettes Baby gegeben wie mich.
Ich verbrachte meine Kindheit in Teheran, aber als Dreizehnjähriger war ich wieder in Deutschland. Mein Vater gab eine arabische Zeitschrift in Bonn heraus. Und ich war bei den Pfadfindern. 1961 war ich eben 13, und eigentlich zu jung für eine große Fahrt. Aber der oberste Pfadfinder, dessen Namen ich sicher damals schon nicht kannte - er wurde "Buddha" gerufen, obschon schlank und rank -, hatte eine Braut in Schweden, die er abholen wollte. Er brauchte also Geld, das heißt, es mussten möglichst viele Pfadfinder mitfahren. So saß auch ich in einem von zwei VW-Käfern, die von Bonn bis nach Siljansnäs am Siljansee fuhren.
Vereintes Schweigen
Es wäre eine wunderbare Gelegenheit gewesen, dass mir meine Mutter irgendetwas über Schweden erzählt hätte. Aber nein. Ich fuhr nach Schweden, ich war der einzige Pfadfinder, der Englisch sprechen konnte, und deshalb musste ich die ganze Anmache für meine älteren Mit-Pfadfinder besorgen, die sich dort an die Schweden-Mädchen heranmachen wollten. Und dann fuhren wir wieder zurück, diesmal noch beengter, weil Buddhas Braut mit dabei war. Es war September gewesen, und bereits recht kalt und regnerisch. Im Siljansee mochte ich ungern schwimmen, und das kleine Städtchen Siljansnäs sah ich auch nicht, weil die übrigen Pfadfinder mich zum Bewachen ihres Zeltes zurück ließen.
Wieder zu Hause, fragte meine Mutter nichts, und ich erzählte ihr auch nichts. Im Folgejahr fuhr sie nach Schweden, heute vermute ich, zu einem Begräbnis. Dann kam sie zurück - und erzählte wieder nichts. Sie brachte eine Schallplatte mit, auf der ein älterer schwedischer Volkssänger traurige Lieder von sich gab. Sie hörte sich die Platte nicht an. Ich hörte sie öfter.
Nun bekam ich diese Bilder zugeschickt, die ungefähr seit 1920 auf irgendwelchen Dachböden verräumt gewesen sind. Ich habe sie zu Lebzeiten meiner Mutter nie gesehen. Ich habe das Gefühl, als wäre mir mit Absicht etwas vorenthalten worden, als wäre ich ein persönlicher Feind gewesen. Aber da steigen wohl kindliche Gefühle auf, so wie Scheidungskinder sich selber die Schuld an der Scheidung der Eltern geben. Dabei waren es wohl nur die katastrophalen Zeitumstände, die so zerstörerisch auf die Seele dieser Frau gewirkt haben.
Aber historisch sind die Bilder einzigartig, denn sie geben einen Eindruck davon, wie die schwedische Kinderhilfe ausgesehen hat, nach der dann der Schwedenplatz benannt worden ist.
Tom Appleton, geboren 1948, Journalist und Schriftsteller. Nach Jahren in Berlin, Teheran, Bonn, Wellington und Wien lebt er jetzt in Neuseeland.