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Zum Sterben freigelassen

Von Ronald Schönhuber

Politik

Der todkranke Regimegegner und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo ist offenbar keine Gefahr für China mehr.


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Peking. Als im Dezember 2010 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, blieb ein Stuhl auf der kleinen Bühne im Rathaus von Oslo leer. Zum ersten Mal seit 1935, als die Nazis den deutschen Pazifisten Carl von Ossietzky nicht ausreisen ließen, konnte weder der Preisträger noch irgendein Vertreter das Diplom und die Medaille entgegennehmen. Liu Xiaobo blickte lediglich von einem großen Porträt dem Publikum entgegen, er selbst saß zum Zeitpunkt der Preisverleihung schon seit knapp einem Jahr in seinem Heimatland China im Gefängnis. Zu bedrohlich war der Schriftsteller und Bürgerrechtler für das etablierte System geworden, als dass die allmächtige Kommunistische Partei ihn weiter in Freiheit lassen wollte.

Doch so laut die Botschaft auch war, die von Oslo aus in die Welt gesendet wurde, so drückend still wurde es um den wohl bedeutendsten chinesischen Dissidenten in den darauffolgenden Jahren. Liu durfte nur in wenigen Ausnahmefällen Besuch erhalten, und wer mit ihm zu tun hatte, durfte nicht darüber sprechen. Das Regime schwieg den heute 61-Jährigen mit aller Macht tot.

Nun scheint die Gefahr aus Sicht der Mächtigen in Peking allerdings gebannt zu sein. Wie am Montag bekannt wurde, ist der promovierte Literaturwissenschafter bereits Ende Mai aus medizinischen Gründe auf Bewährung freigelassen worden. Wenige Tage zuvor hatten die Ärzte bei Liu eine unheilbare Leberkrebserkrankung festgestellt. Der Bürgerrechtler wird nun in einem Krankenhaus in Shenyang unweit seines ehemaligen Gefängnisses behandelt.

Wirkungslose Umerziehung

Dass die Kommunistische Partei den nun zum Sterben freigelassenen Liu dermaßen gefürchtet hat, hat vor allem mit seinem enormen Beharrungsvermögen zu tun. Bereits vor dem Tiananmen-Massaker, bei dem am 4. Juni 1989 vermutlich hunderte friedliche Demonstranten ums Leben kamen, macht sich der damals junge Wissenschafter für Meinungsfreiheit und ein Ende der Einparteiendiktatur stark. Liu gehört auch zu den letzten noch Hungerstreikenden, ehe der Platz des himmlischen Friedens von Armee und Polizei gewaltsam geräumt wird.

1991 wird Liu, während die Welt gebannt auf die Golfkrise blickt, mit Berufsverbot belegt. Fünf Jahre später wird er für drei Jahre zur "Umerziehung" ins Arbeitslager geschickt, nachdem er die chinesische Führung zusammen mit einem anderen Dissidenten aufgefordert hatte, das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu akzeptieren und Gespräche mit dem Dalai Lama aufzunehmen.

Doch die "Umerziehung" zeigt wenig Wirkung. Liu ist auch nach seiner Entlassung an vorderster Front der Demokratiebewegung aktiv und veröffentlicht 2008 zusammen mit 300 anderen Bürgerrechtlern die sogenannte Charta 08, eine unübersehbare Referenz an die tschechoslowakische Charta 77, die den Weg für die von Vaclav Havel geführte "samtenen Revolution" in Prag bereitete. Und ganz ähnlich wie die tschechischen Bürgerrechtler fordern auch die chinesischen Dissidenten mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und die Achtung der Menschenrechte.

Die Regierung sieht das allerdings als Umsturzversuch an. Liu wird wegen Untergrabung der Staatsgewalt festgenommen und ein Jahr später unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu elf Jahren Haft verurteilt.

"Unfreiwilliger Anführer"

Gefährlich hat Liu aus Sicht des Regimes aber nicht nur sein Beharrungsvermögen gemacht, sondern seine Breitenwirkung. Denn spätestens seit der Jahrtausendwende ist der Literaturprofessor mit der Brille vom einsamen Rufer zum Symbol der oppositionellen Bewegung geworden, der auch Unterstützung von gemäßigten Kräften bekam. Anwälte, Künstler und Professoren zeigten offen Sympathien, selbst moderate Intellektuelle innerhalb des Systemes konnten sich mit Liu identifizieren. Schrittweise wurde er damit auch zu jener Persönlichkeit, die von allen oppositionellen Bewegungen akzeptiert wurde.

Dabei ist der Sohn eines Soldaten nach Meinung vieler seiner Weggefährten nicht unbedingt freiwillig und aus voller Überzeugung zu jener dominanten Führungsfigur geworden. Liu sei von seinem Charakter und seiner Persönlichkeit her eigentlich eher ein unabhängiger Intellektueller und nicht der Anführer einer Oppositionsbewegung, sagte der exilchinesische Schriftsteller Bei Ling, den eine langjährige und tiefe Freundschaft mit Liu verbindet, einmal in einem Interview. "Aber die Geschichte hat ihn von einem Intellektuellen zu einem Anführer verwandelt."