Zweifel an der Meinungsfreiheit sind populär. Und unbegründet.
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Die peinliche, also schmerzhafte Selbstbezichtigung ist eine Besonderheit des deutschen und deutschsprachigen Feuilletons. Aber noch bei der unerbittlichsten Selbstanklage schwingt verlässlich eine eigentümliche Form von Hybris mit.
Denn wenn tatsächlich stimmen sollte, was Reportagen von Marktplätzen behaupten und Essayisten im Großformat erörtern, wenn also wirklich stimmen sollte, dass hierzulande die Meinungsfreiheit - schon wieder! - grob gefährdet sei, worüber, bitte, sollen dann all jene Menschen klagen, die tatsächlich unter politischen Umständen leben müssen, wo ein freies Wort einen Bürger schnell hinter Gitter bringen kann?
Die Meinungsfreiheit ist weder in Deutschland noch in Österreich gefährdet und übrigens auch nicht in Schottland oder Katalonien. Wie auch, wenn jeder zu allem und jedem eine Meinung hat und die Möglichkeit, diese in die weite Welt zu rufen? Die Einzigen, die unter den neuen Umständen tatsächlich Grund zum Klagen hätten, sind diejenigen, die in den guten alten Zeiten noch über das Monopol auf die veröffentlichte Meinung verfügten: Journalisten und Politiker.
Allen anderen stehen mit dem Siegeszug des Internets und der Sozialen Medien die Tore weit offen, ihr Herz, ihr Hirn und ihren Bauch vor allen auszuschütten, die es hören und lesen wollen. Von Wollen kann dabei gar nicht immer die Frage sein, weshalb durchaus angeregt über neue juristische Grenzziehungen für verbale Grenzgänger diskutiert wird. Nach "Fake News" ist jetzt "Hate Speech" an der Reihe, wobei deren Urheber im Zweifel immer in den Reihen der Gegenseite zu finden sind. Und das - Achtung, Ironie - sollte man schon noch sagen dürfen. Von daher ist es mehr gezielte Inszenierung, ja kühle Strategie, die eigene Meinung als geächtet und gefährdet darzustellen. Dahinter steckt das Kalkül auf Solidarität mit den angeblich Verfemten und Außenseitern. Man kann das bei Rechten wie Linken beobachten und auch bei allen dazwischen.
Die Qualität der öffentlichen Debatte ist trotzdem nicht besser geworden. Die Ausweitung der Kampfzone und die Multiplikation der Mitdiskutanten mögen in Teilbereichen die Debatte qualitativ wie quantitativ belebt und befruchtet haben; in den großen Debatten bleiben die Gegner dagegen unter sich. Sogar die direkt inszenierte Konfrontation will nicht überzeugen, sondern überwältigen. Die Zahl derer, die dies mit sich machen lassen wollen, bleibt allerdings überschaubar.
Der Zustand der Meinungen ist also zwingend laut, vielfältig bis zur Unübersichtlichkeit, sehr oft besserwisserisch und leider gerne verletzend. Darüber muss keiner jubeln. Ein Grund zum Klagen ist es aber auch nicht.