Beim Referendum über die neue türkische Verfassung geht es um mehr als nur Gesetzesänderungen. | Istanbul/Wien. "Die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates, entsprechend der Auffassung vom Nationalismus, wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, der unsterbliche Führer und einzigartige Held, verkündet hat": In der Präambel der Verfassung kommt das Wort "Nation" in seinen Abwandlungen ein Dutzend Mal vor. Und der Text lässt nur eine Nation und nur eine Sprache gelten: die türkische. | Ein Staatsmythos bekommt Risse
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Kein Wort von den Millionen Kurden, den Armeniern, den Griechen oder den Assyrern, die den Vielvölkerstaat ebenso prägten.
Die nicht berücksichtigte Vielfalt hat nicht zuletzt mit den Vätern der Verfassung zu tun. Obwohl demokratische, laizistische und soziale Werte betont werden, steht hinter dem Text eine Institution, die Hierarchien und Gehorsam mehr schätzt denn Individualität und freie Entfaltung: die Armee. Das Gesetz trat 1982 in Kraft, nach dem dritten Militärputsch in der Geschichte der Türkei.
Doch das Land hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt, ist wirtschaftlich und politisch stabiler geworden, es führt Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Und auch diese verlangt eine Stärkung der Demokratie in der Türkei.
Dazu will Ankara mit einer neuen Verfassung beitragen. Wenn also die Türken am Sonntag in einem Referendum darüber abstimmen, entscheiden sie über mehr als eine Gesetzesänderung.
Neuordnung desVerfassungsgerichts
"Es ist der Versuch, einige der strukturellen Probleme in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zu mildern", erklärt Dilek Kurban von der Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien (Tesev) in Istanbul. "Die Menschen müssen die Frage beantworten: Wollen wir eine Verfassung aus der Zeit eines blutigen Militärputsches oder eine demokratische?" Die fast 30 Gesetzesänderungen betreffen nämlich etliche Bereiche der Gesellschaft. So ist neben Justizreformen auch die Stärkung von Persönlichkeitsrechten vorgesehen. Bürger etwa sollen die Möglichkeit zu Einzelklagen vor dem Verfassungsgericht erhalten; ein strengerer Schutz persönlicher Daten ist ebenfalls geplant. Gewerkschaftsrechte sollen gestärkt und verfassungsrechtliche Grundlagen für bessere Chancen für Frauen in der Arbeitswelt geschaffen werden.
Doch als einen der wichtigsten Punkte sieht die Politologin Kurban die Reformen in der Justiz an, zu denen die Neuordnung des Verfassungsgerichts zählt. Der soll von elf Mitgliedern auf 17 Personen erweitert werden; das Parlament darf drei von ihnen selbst wählen. "Das Verfassungsgericht hat mit seinen Urteilen immer wieder gezeigt, dass es seine Kompetenzen überschreitet", sagt Kurban.
Ein Beispiel sei das Gesetz zur Aufhebung des Kopftuchverbots auf Universitäten, das das Parlament beschlossen und das Gericht wieder rückgängig gemacht hat. Doch für die Entscheidung waren ideologische Gründe ausschlaggebend und nicht formale, worauf sich die Richter bei ihrer Prüfung eigentlich beschränken müssten.
Die Justiz fühlt sich nämlich - wie die Armee - mehrheitlich als Hüterin der von Atatürk getragenen Werte, die sie durch die Regierungspartei AKP mit ihren islamischen Wurzeln gefährdet sieht. Tatsächlich geht es dabei aber weniger um Religion denn um den Kampf um Einfluss und - auch wirtschaftliche - Macht, die die alten kemalistischen Eliten nicht mit den aufstrebenden AKP-Zirkeln teilen möchten.
Abstimmung auch über die Regierungspartei
Kritiker werfen Premier Recep Tayyip Erdogan vor, die Institutionen schwächen zu wollen, um die eigene Position zu stärken. So wird das Referendum über die Verfassung teilweise auch zu einem Votum für oder gegen die Regierungspartei, die im Parlament eine absolute Mehrheit hält. "Eine der Fragen wird sein, ob es die AKP schafft, am 12. September ihre Wähler zu mobilisieren", meint Gerald Knaus, Leiter des Think Tanks European Stability Initiative.
Doch auch wenn die AKP nun aus politischem Kalkül und nicht nur im Interesse der Demokratie massiv für ein Ja zur neuen Verfassung wirbt - sie hat die meisten Reformen der letzten Jahre alleine getragen. "Entweder es passiert gar nichts oder die AKP macht es alleine", fasst es Knaus zusammen.
Für eines der wichtigsten Vorhaben hält er Änderungen bei der Militärgerichtsbarkeit. Laut der neuen Verfassung sollen sich Armeeangehörige künftig von der zivilen Justiz kontrollieren lassen. "Das Verständnis von einem Militär, das außerhalb der Politik steht und direkt in demokratisch gewählte Strukturen eingreifen darf, ist bereits aufgebrochen", betont Knaus. Allerdings sei in Ländern wie Griechenland oder Portugal, einstigen Militärdiktaturen, ein Putsch der Armee mittlerweile völlig undenkbar. Davon sei die Türkei noch ein kleines Stück entfernt.