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Agiert der künftige US-Präsident Trump wie befürchtet, könnten sich die Deutschen nach Stabilität unter Angela Merkel sehnen.
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Berlin/Wien. Mitleid bekommt Angela Merkel dieser Tage reichlich geschenkt. Mit dem - zumindest seiner Präsidentschaftskampagne nach - erratischen Rassisten Donald Trump soll die deutsche Kanzlerin künftig die transatlantische Achse bilden. Davor graut auch den renommiertesten Politanalysten, weil alle im Dunklen tappen, welche Agenda der künftige US-Präsident ab Anfang Jänner tatsächlich verfolgen wird. Diese Sorge herrscht auch in den Stäben im Berliner Kanzleramt. Die "New York Times" setzt bereits alle Hoffnungen in Merkel, bezeichnet sie als "die letzte Verteidigerin des liberalen Westens".
Ganz schön viel verlangt für eine Person, die noch nicht einmal bekanntgegeben hat, ob sie ein weiteres Mal als CDU-Vorsitzende, und damit auch als Kanzlerkandidatin für die Bundestagswahl im Herbst 2017, zur Verfügung steht. Das Warten könnte am Sonntag um 19 Uhr ein Ende haben. Merkels CDU hat eine Pressekonferenz angekündigt, die Kanzlerin selbst werde dabei Stellung nehmen. Mehrere CDU-Landesverbände haben sie bereits für die Wiederwahl als Parteichefin nominiert, Anfang Dezember findet der Parteitag statt. Bisher wiegelte die 62-Jährige ab, vertröstete auf den "geeigneten Zeitpunkt". Doch sogar Noch-Präsident Barack Obama, der im Angesicht seines Nachfolgers Trump international so populär wie schon lange nicht ist, stupste sie bei seinem dieswöchigen Besuch in Berlin in Richtung Kandidatur.
59 Prozent der Deutschen würden eine Kandidatur Merkels begrüßen, ermittelte das "Forsa"-Institut in der vergangenen Woche. Unter den CDU-Anhängern sind es gar 87 Prozent. Die Popularität erstaunt angesichts der heftigen Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Auch sind die Umfragewerte für CDU/CSU mager. Sie pendeln derzeit, je nach Meinungsforschungsinstitut, zwischen 30 und 35 Prozent, sind also deutlich unter jenen 41,5 Prozent bei der Bundestagswahl 2013. Für Merkels heftigste Kritiker, die Alternative für Deutschland (AfD), werden nun zwischen 10 und 14,5 Prozent vorausgesagt.
Kritik wie in den Nullerjahren
Populismus wecke und befriedige Bedürfnisse, die außerhalb des Wirkungsfelds liegen, das die Kanzlerin mit ihrem rationalen, unterkühlten Politikstil bespielt, analysiert die "Zeit" in ihrer aktuellen Ausgabe. Merkel ist wieder in den Nullerjahren angelangt: Als zu sachlich, zu spröde und zu wenig bürgernah galt sie im Vergleich mit dem Polit-Alphatier Gerhard Schröder. Dennoch gewann sie die Bundestagswahl 2005 gegen den SPD-Kanzler. Schröder liefen infolge der Agenda-2010-Reformen die linken Wähler davon. Dass sich Merkels Flüchtlingspolitik zum Agenda-Gegenstück der Union entwickelt und sich die AfD dauerhaft rechts von CDU und ihrer bayerischen Schwester etabliert, ist das Horrorszenario der Konservativen.
Schröder verlor die Wahl in einem Umfeld des nationalen Umbruchs und internationaler Ruhe - am Irakkrieg beteiligte er sich wohlweislich nicht. Merkel treiben seit Jahren multiple internationale Krisen um, von der Finanzkrise über die Eurokrise bis zur Schuldenkrise. In dieser Zeit gab sie den Deutschen das Gefühl von Sicherheit. Ihre Kampagnenmanager 2013 erhoben die Teilnehmer bei Wahlkampfkundgebungen gar zur "Familie". Die Bürger suchten und fanden Schutz bei "Mutti" - ein Ausdruck, der eigentlich als Verhöhnung Merkels galt.
Während nun die AfD über den Wahlerfolg Trumps jubelt, sorgen sich die meisten Deutschen vor dem neuen Präsidenten. Drei Viertel hätten für Hillary Clinton gestimmt. Mögen viele unzufrieden mit der Flüchtlingspolitik der Regierung sein - auch wenn diese längst restriktiv ist: Von einem Systembruch wie in den USA ist Deutschland derzeit weit entfernt.
Ungeliebte große Koalition
Macht der kommende US-Präsident seine Agenda wahr, könnte er die Bürger nochmals in "Muttis" Arme treiben. Vor den Deutschen wie den Europäern stünden nämlich mannigfaltige Herausforderungen. Etwa lässt Trumps Kokettieren mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Polen und in den baltischen Staaten die Alarmglocken schrillen. Europa muss sich in den kommenden Jahren auf Krisenmanagement einstellen: eigentlich Merkels Domäne. Wobei, als die Flüchtlinge zu Tausenden 2015 Richtung Deutschland aufbrachen, unterschätzte ausgerechnet sie, die alle Optionen rasch und kühl durchdenkt, das Ausmaß ihrer Entscheidung, die Grenzen zu öffnen. Zwar sind laut ARD-Deutschlandtrend immer noch 52 Prozent der Bürger mit der Arbeit der Kanzlerin zufrieden, Werte von über 60 Prozent gehören aber der Vergangenheit an.
Ein guter Teil des AfD-Aufstiegs ist auch der großen Koalition geschuldet. Anders als in Österreich ist diese in der BRD eine Ausnahme. Lediglich 1966 bis 1969 sowie 2005 bis 2009 regierten Schwarz und Rot miteinander, seit 2013 amtiert die "GroKo" wieder. Sowohl bei CDU/CSU als auch in der SPD ist die Unlust auf eine Fortsetzung groß. Die drei Parteien begegnen sich zwar nicht in teils offener Antipathie wie SPÖ und ÖVP. Wie in Skandinavien gilt aber auch in Deutschlands politischer Kultur, dass eine der traditionellen Großparteien in Opposition zu sein hat - auch, um eine erdrückende Parlamentsmehrheit der Regierungsparteien zu verhindern und demokratischen Wettbewerb zuzulassen. Derzeit hält die Berliner "GroKo" 503 von 630 Mandaten im Bundestag, mit lediglich 8,6 Prozent bei der Wahl 2013 ist die Linkspartei Oppositionsführerin.
Sollte 2017 das Parlament von vier auf sechs Fraktionen wachsen (zu CDU/CSU, SPD, Linke und Grüne noch AfD und FDP), könnte Schwarz-Rot zu einer Neuauflage gezwungen sein. Bereits in der aktuellen Legislaturperiode fehlten die Leuchtturmprojekte. Merkel sei "schon immer allergisch gegen große Visionen", frotzelte "Die Welt" und trifft damit einen wunden Punkt. Letztlich geht das Allzeithoch von 43 Millionen Erwerbstätigen (zum Preis vieler schlecht bezahlter Jobs) auf Schröders Reformen zurück. Angenommen, Merkel bliebe im Amt, wäre es ihre dritte Wiederwahl und das im 13. Amtsjahr. Große Würfe wären nicht zu erwarten, erst recht nicht auf europäischer Ebene. Dort warten schon die nächsten Schreckgespenster: mögliche Wahlerfolge von Geert Wilders und Marine Le Pen 2017.