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Zurück zu den Wurzeln der Demokratie

Von Simon Rosner

Reflexionen

Die repräsentative Demokratie hat ein Akzeptanzproblem. Immer öfter greift die Politik deshalb auf Modelle von Bürgerbeteiligung zurück.


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Vor einer Woche wurde im Plenarsaal des Nationalrats wieder diskutiert. Allerdings nicht von den gewählten Abgeordneten, die hatten Pause. Die Debatte führten Jugendliche, und zwar rund 100 Schülerinnen und Schüler aus Neunkirchen, Linz, Kremsmünster und Tullnerbach. Zum bereits 21. Mal tagte das Jugendparlament, seit 2008 tritt es zweimal im Jahr zusammen. Wobei es bei diesen Parlamenten nicht darum geht, Gesetze zu beschließen. Im Vordergrund steht Politische Bildung.

Die Schülerinnen und Schüler erfahren dabei praktisch, wie der Gesetzgebungsprozess funktioniert, der ja weit über die im Fernsehen übertragenen Plenardebatten hinausreicht. Die Jugendlichen werden in fiktive Klubs aufgeteilt, in diesen wird diskutiert, Abänderungsanträge werden eingebracht und diese in Ausschüssen besprochen. Ganz so wie im echten Nationalrat.

Seit einiger Zeit werden die Ergebnisse dieser Jugendparlamente auch an die zuständigen Fachausschüsse weitergeleitet, also die realen, damit auch diese erfahren, worüber die Jugendlichen diskutiert haben, was sie interessiert und welche Meinungen sie vertreten. "Es ist eine Form der Werbung für unsere repräsentative Demokratie", sagt Elisabeth Schindler-Müller, die Leiterin der Abteilung Politische Bildung des Parlaments.

Jugendparlamente gibt es in mehreren europäischen Ländern. In der Schweiz geht ihre Rolle über den Aspekt der Politische Bildung zum Teil aber bereits deutlich hinaus. Der Jugendrat der Stadt Bern hat etwa ein Anhörungsrecht im Gemeinderat, das Jugendparlament des Kantons Uri kann sogar über ein gewisses Budget verfügen. Eingereichte Projekte werden von Jugendlichen diskutiert und können durch Beschlüsse des Jugendparlaments dann auch finanziert werden.

Diese Form von Jugendparlamenten ist nicht nur Wissensvermittlung, es handelt sich schon um ein partizipatives Verfahren. Dass die Schweiz in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle einnimmt, ist kein Zufall, sondern hat vielmehr mit der politischen Kultur zu tun. In keinem Land ist die partizipative und direkte Demokratie so weitführend wie in der Schweiz. Doch auch anderswo in Europa ist gerade viel im Umbruch.

Klarer Trend zu mehr Partizipation

Edward Strasser gehört zu jenen, die einen guten Überblick darüber haben, was gerade in diesem Bereich passiert. Strasser hat das "Innovation in Politics Institute" gegründet, das mittlerweile Büros in 14 Ländern betreibt und jedes Jahr einen Innovationspreis vergibt. Das Ziel dabei ist, "Politik in Europa wieder attraktiver und erfolgreicher zu machen", sagt Strasser. Jedes Jahr werden aus ganz Europa 400 bis 600 Projekte eingereicht, die von einer Jury aus 1000 Bürgerinnen und Bürgern bewertet werden. In acht Kategorien werden Gewinner gekürt.

Wer seit Jahren nach den besten Beispielen für politische Innovation sucht, bekommt einen guten Einblick über Entwicklungen. "Beispiele, in denen es mehr Partizipation gibt, erhalten eine höhere Bewertung, und sie sind auch erfolgreicher. Es gibt also einen klaren Trend zu mehr Partizipation", sagt Strasser.

Für die Politik ist das auch eine Herausforderung. Sie ist es gewöhnt, Entscheidungen zu treffen. Politikerinnen und Politiker werden dafür auch gewählt. Sie sollen ja Reformen umsetzen und Maßnahmen beschließen. Und die klassische Top-Down-Entscheidungsstruktur hat auch nicht zu unterschätzende Vorteile. Sie ist einfacher, schneller und deshalb auch günstiger. Doch es ist offensichtlich, dass mittlerweile dabei Akzeptanzprobleme auftauchen. Die Bevölkerung fühlt sich dann "nicht informiert." Oder es heißt, die Politik "fährt über unsere Interessen drüber". Und dabei ist es egal, auf welcher Ebene diese Entscheidungen getroffen werden, ob in einer Gemeinde oder vom Europäischen Parlament. (Wobei die Politik auf lokaler Ebene noch vergleichsweise hohe Vertrauenswerte genießt.)

Dennoch ist es wenig sinnvoll, dieser Entscheidungsstruktur ihre demokratiepolitische Tauglichkeit grundsätzlich zu verwehren. Und es wäre wohl auch ahistorisch. Über viele Jahrzehnte hat die repräsentative Demokratie in ihrer ursprünglichen verfassungsrechtlichen Ausgestaltung hohe Akzeptanz genossen. Und es hat unter anderem auch dazu geführt, dass in Österreich eine geradezu unglaubliche Infrastruktur geschaffen wurde. Riesige Kraftwerke wurden errichtet, Autobahnen, Tunnel und das fast schon absurde Projekt einer 390 Hektar großen Insel mitten in einer Großstadt - die Donauinsel. Und das alles ohne größeren Widerstand der Bevölkerung.

Das System, alle paar Jahre die Parlamente auf den unterschiedlichen Ebenen zu wählen, danach aber die Entscheidungen der Politik (weitgehend) zu akzeptieren, hat lange recht reibungslos funktioniert. Besonders gut wird diese Entwicklung durch den Bau der großen Donaukraftwerke illustriert. Ab den 1950er Jahren wurde ein Kraftwerk nach dem anderen errichtet, um den wachsenden Strombedarf zu decken. Die Projekte waren nicht umstritten. Bis Hainburg. Es steht bis heute für eine politische Zäsur in der Zweiten Republik. Es ist undenkbar geworden, derartige Projekte ohne Einbindung der Bevölkerung zu realisieren. Vor dem letzten Kraftwerk an der Donau in der Freudenau sicherte sich die Politik bereits die Unterstützung der Bevölkerung per Volksbefragung.

Die emanzipierte Gesellschaft

Wie die Politik ihre Entscheidungen am besten treffen sollte, muss immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden. Es gibt kein absolut bestes System. Aber es gibt offenbar mehr und weniger akzeptierte Modelle. Als Rahmen dafür dient die wachsende Emanzipation der Gesellschaft gegenüber der Obrigkeit und den Autoritäten, also auch der Politik. "Die Hörigkeit der Bevölkerung den Parteien oder auch der Kirche gegenüber ist geringer geworden", sagt die Politologin Tamara Ehs. Sie forscht an der Uni Wien zu partizipativer Demokratie. "Die Verfassung hat sich langsam diesen Trends öffnen müssen."

Ehs nennt als Beispiel die 1989 beschlossene Möglichkeit einer Volksbefragung auf nationaler Ebene als Ergänzung zur verbindlichen Volksabstimmung. Die Politik machte davon allerdings erst viele Jahre später bei der Debatte um die Wehrpflicht Gebrauch, wobei das damals primär einem vorwahlbedingten Doppelpass zwischen Wiens Bürgermeister Michael Häupl und der "Kronen Zeitung" geschuldet war.

In Wien wurde dieses Modell der Teilhabe schon weit früher installiert, nämlich in den 1970ern. Auch damals waren übrigens die Protagonisten der Wiener Bürgermeister und die "Kronen Zeitung". Gegen die geplante Bebauung des Sternwarteparks hatten sich Anrainer gewehrt, die "Krone" kampagnisierte dagegen und schrieb vom "Baum-Mord", Stadtchef Felix Slavik versuchte, den wachsenden Druck durch eine Volksbefragung zu verringern. Es glückte aber nur kurzzeitig, denn die Wiener stimmten gegen die Bebauung und Slavik trat wenig später zurück.

Gerade auf kommunaler Ebene ist es längst gang und gäbe, dass die Politik bei vielen Entscheidungen die Bevölkerung einbindet. Und sie muss es auch tun. Wie die Politik jedoch diese Beteiligung gestaltet, ist sehr unterschiedlich. Einmal sind es nur reine Informationsabende, mal mit mehr, mal mit weniger diskursiver Einbindung der Einwohner. Es gibt aber auch Partizipations-Modelle, bei denen die Bürgerinnen und Bürger sehr aktiv in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. Einige Planungsbüros haben sich darauf spezialisiert, etwa bei Dorferneuerungsprojekten.

Dabei geht es nicht nur um das eher defensive Motiv, die Akzeptanz für eine Entscheidung zu erhöhen. Sondern dahinter steckt auch die Hoffnung, dass derartige Verfahren zu insgesamt besseren Ergebnissen führen. Und es spricht ja auch einiges dafür: Gerade in kleineren Gemeinden ist zwar die örtliche Politik vergleichsweise gut über die Bedürfnisse der Bevölkerung informiert. Aber weiß sie wirklich genug, um genau zu wissen, welche Bedürfnisse das neue Gemeindezentrum abdecken soll? Wollen die Jugendlichen wirklich ein klassisches Jugendzentrum oder doch eher ein Computer-Lab? Derartige Fragen lassen sich durch ein Beteiligungsverfahren vermutlich besser beantworten als durch gelegentliche Wirtshausbesuche des Bürgermeisters.

So weit die Theorie. In der Praxis zeigen sich jedoch viele Fallstricke, um tatsächlich zu besseren Ergebnissen zu gelangen. "Wie der Beteiligungsprozess aufgebaut ist, entscheidet über das Ergebnis", sagt Ehs. Und auch Strasser betont diesen Aspekt. Eine wesentliche und oftmals strittige Frage ist, wer sich beteiligen darf. Nur die Anrainer? Alle Einwohner? Oder wird der Kreis so erweitert, damit sämtliche Betroffene, auch aus anderen Gemeinden, eingebunden werden?

In weiteren Schritten muss bei diesen Verfahren aber auch eine Repräsentativität gewährleistet werden. Bei klassischen Infoabenden werden sich introvertierte Personen vermutlich weniger zu Wort melden. Doch auch diese haben gute Ideen. Sind die Treffen zudem am Abend, können oft weniger Frauen teilnehmen, weil sie Betreuungspflichten haben. All das und mehr gilt es zu berücksichtigen. "Diese Verfahren sind zeitintensiv", sagt Ehs. "Und es eignet sich auch nicht jedes Instrument für jedes Thema und zu jedem Zeitpunkt." Zentral ist aber, dass diese Verfahren professionell aufgesetzt und moderiert werden, um am Ende wirklich bessere Ergebnisse zu erhalten.

Dass diese Beteiligungsverfahren mittlerweile zu einem Geschäftszweig geworden sind, sieht die Politikwissenschafterin kritisch. "Man muss aufpassen, dass wir keine privatisierte Demokratie bekommen", sagt sie. "Das Know-how bleibt ja dann bei den Planungsbüros." Ehs fehlt die Anschlussfähigkeit an die repräsentative Demokratie. Sie plädiert daher, dieses Wissen in die diversen Verwaltungseinheiten hinein zu holen. "Ich empfehle dringend, das landesweit zu organisieren."

Das Land Vorarlberg ist hier mit gutem Beispiel vorangegangen und hat schon 1999 das "Büro für Zukunftsfragen" installiert. Es kümmert sich seither unter anderem um Beteiligungsverfahren, berät Initiativen und Gemeinden. Auch sonst ist Vorarlberg ein Musterland in Sachen Bürgerbeteiligung - und zwar auch im Sinn eines Vorbilds für andere. In Deutschland wird in einigen Städten das "Vorarlberger Modell" diskutiert. Dabei handelt es sich um sogenannte Bürgerräte.

Vorarlberg als Vorreiter in Sachen Partizipation

In der genauen Ausgestaltung gibt es zwar auch eine gewisse Bandbreite, das Prinzip hinter Bürgerräten ist aber das eines Schattenparlaments, besetzt mit zufällig, aber repräsentativ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Das war zwar einst auch die prinzipielle Idee des Parlamentarismus und der nicht zufällig so lautenden repräsentativen Demokratie. Sieht man sich jedoch die Parlamente heute an, wird offensichtlich, dass sich die Realität von der Theorie doch ein Stück entfernt hat.

Auch bei den Bürgerräten zeigt sich, dass es gar nicht so einfach ist, echte Repräsentativität herzustellen. Manche Bevölkerungsgruppen sind nur schwer dafür zu begeistern, oftmals ist die Rückmeldung auf entsprechende Einladungen sehr gering. Auch diese Form der Partizipation ist mühsam und aufwendig - aber durchaus lohnend, wie auch internationale Beispiele zeigen.

Das bekannteste ist jenes der Citizens’ Assembly in Irland. Diese umfasst 100 Personen, zwei Drittel davon sind repräsentativ, aber zufällig ausgewählt. 33 Mitglieder stellen politische Parteien. Die Bürgerversammlung ist kein Entscheidungsgremium, sie hat nur beratende Funktion. Aber sie hatte dennoch maßgeblichen Anteil daran, dass wesentliche Entscheidungen getroffen wurden.

Denn eine in vielen Demokratien zu beobachtende Entwicklung, sind langfristig bestehende Blockade-Situationen. In Österreich ist vor allem der Bildungsbereich zu nennen. Ein anderes Beispiel war die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare, die dann der Verfassungsgerichtshof ermöglichte. In Irland stimmte die Bürgerversammlung dafür und konnte die politische Blockade dadurch lösen. "Sie hat sich auch für viermal so hohe CO2-Steuern ausgesprochen wie das irische Parlament", erzählt Ehs. Erst dann habe dieses den Mut für eine höhere CO2-Bepreisung gehabt.

Es kann allerdings nicht der einzige Daseinszweck von partizipativen Verfahren sein, als eine Art demokratische Feuerwehr zu fungieren, die immer dann gerufen wird, wenn politisch irgendwo der Hut brennt. Ehs nennt das "Democracy on demand". Das bringe manchmal sogar mehr Probleme, sagt sie, "es braucht einen generellen Wandel in der Partizipationskultur, man muss früher ansetzen." Also nicht erst dann, wenn die Politiker nicht mehr weiterwissen.

Die Demokratie braucht "glückliche Verlierer"

Zumal auch durch die Einbindung der Bevölkerung Blockaden entstehen können. In Deutschland sind jüngst Konflikte zwischen Natur- und Klimaschützern erwachsen. Die einen setzen sich für den Erhalt von Wäldern und Landschaft ein, die anderen für Schienenausbau und Windkraft. Eine Kompromisssuche gestaltet sich schwierig, wenn die persönliche Betroffenheit sehr groß ist.

Beim Sternwartepark in den 70ern ging es um den Ausbau der dort angesiedelten Universität. Das war also ein Projekt, das der Allgemeinheit dienen sollte. Aber es ist auch verständlich, dass sich niemand den Park vor der Türe zubauen lassen wollte. Am Ende stimmte dann ganz Wien darüber ab, nicht nur die Anrainer.

Vielleicht wäre es anders ausgegangen, wenn von Beginn weg ein Dialog geführt worden wäre und die Bedürfnisse der Anrainer berücksichtigt worden wären. Dass auch bei partizipativen Verfahren am Ende nicht alle gewinnen können, ist logisch. "Es werden nicht alle mit der Lösung zufrieden sein, aber sie sollen mit dem Prozess zufrieden sein", sagt Ehs. "In einer Demokratie brauchen wir ,happy losers‘." Es geht darum, dass die Legitimität der Entscheidungsprozesse eine hohe Anerkennung erhält. Genau das scheint das klassische Modell der Entscheidungsfindung mehr und mehr zu verlieren.

Ein weiterer Aspekt, der an Bedeutung gewinnt, ist die größer werdende Gruppe von nicht-wahlberechtigten Personen. Das ist eine Folge von wachsender Mobilität und Migration. Besonders betroffen davon sind Städte, in Wien ist rund ein Drittel der Bevölkerung nicht wahlberechtigt. Dieses Demokratiedefizit kann Wien aber mangels verfassungsrechtlicher Kompetenz nicht beheben. Durch deliberative Instrumente könnten diese Gruppen (und ihre Interessen) aber eingebunden werden. Zumindest besser als bisher.

Welches dieser Instrumente sich am Ende durchsetzen wird bzw. welche Verfahren für welche Fragestellungen und Projekte am besten geeignet sind, wird sich weisen. Auch die Digitalisierung spielt hier hinein. In Frankreich etwa wurde ein Gesetzesentwurf zu digitalen Rechten unter Beteiligung von 21.000 Bürgern ähnlich einem Wikipedia-Eintrag entwickelt. Auch das ist eine Innovation, auf die Strasser hinweist.

Was klar scheint: Ein Zurück zum alten System wird es nicht geben. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, die Demokratie tut es auch. Zumal die Alternativantwort auf eine wachsender Demokratiemüdigkeit nicht gerade verlockend ist: nämlich ein Zurück zum "starken Mann".