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Zusammenarbeit statt Zaudern

Von Alexander Dworzak

Politik

Gauck betont europäische Identität und appelliert für EU-Verbleib der Briten.


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Berlin. Lange hielt sich Joachim Gauck zurück, sodass bereits leise Kritik an der allzu unauffälligen Performance von Deutschlands Staatsoberhaupt aufkam. Dem Schweigen folgte am Freitag ein 50-minütiges Plädoyer: In seiner "Rede zu Perspektiven der europäischen Idee" konterte Gauck jenen, die den Kontinent bereits am Abgrund sehen - ohne dabei die bestehenden Probleme zu bagatellisieren.

"Wir ringen nicht nur um unsere Währung. Wir ringen auch mit uns selbst." Gleich zu Beginn seiner Rede macht Gauck klar, dass es ihm um mehr als Euro-Krise, ESM und Austeritätspolitik geht. Der 73-jährige Ex-Pastor konstatiert eine "Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europa". Ungeduld, Erschöpfung und Frustration würden sich unter den Bürgern breitmachen, die oftmals in Verdruss über angebliche Technokraten in Brüssel, mangelnde Transparenz der Entscheidungen und die dominierende Rolle des deutsch-französischen Duos ihren Ausdruck finde. Kurzum: "Es gibt Klärungsbedarf in Europa."

Ein Lösungsmodell bietet Gauck auch an: "Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung." Während in Großbritannien seit Monaten über den Austritt aus der EU diskutiert wird und auch skandinavische sowie mittel- und osteuropäische Staaten von Schweden bis Tschechien die weitere Integration skeptisch sehen, geht Deutschlands Präsident den gegenteiligen Weg. Er fordert nicht nur eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, welche die "Konstruktionsfehler" des Euro aufheben soll, sondern die Vereinheitlichung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie ökologische, gesellschaftspolitische - beispielsweise im Bereich Migration - und demografische Konzepte.

Idealist als Pragmatiker

Pragmatisch begründet der Idealist Gauck die engere Zusammenarbeit: Angesichts der Globalisierung und des rasanten Aufstiegs der Schwellenländer "kann sich im besten Fall ein vereintes Europa als Global Player behaupten". Unausgesprochen stellt Gauck den Chefs in den Regierungskanzleien die Rute ins Fenster. Entweder ihr arbeitet endlich zusammen, oder wir versinken in der Bedeutungslosigkeit. Ohne Einfluss verliert Europa nämlich, worum es Joachim Gauck im Kern geht: Freiheit und Verantwortung. Nur ein starkes Europa könne "weltweit für unsere Werte Freiheit, Menschenwürde und Solidarität eintreten", appelliert der frühere Beauftragte für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen.

Doch wofür steht Europa? Ausführlich widmet sich Gauck einer angeblich spezifisch europäischen Identität. Er sieht einen "zeitlosen Wertekanon für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität", gespeist aus der "griechischen Antike über die römische Reichsidee und das römische Recht bis hin zu den prägenden christlich-jüdischen Glaubenstraditionen". Gaucks Interpretationen erinnern an dieser Stelle an jene christdemokratischer Politiker anlässlich der gescheiterten EU-Verfassung 2002/03 - mit jener Ausnahme, dass Muslime nun als "selbstverständlicher Teil des europäischen Miteinanders" bezeichnet werden.

Ost-Perspektive eingebracht

Bemerkenswert ist Gaucks Ansage, "in Europa fehlt eine große identitätsstiftende Erzählung", etwa ein Gründungsmythos nach Art einer Entscheidungsschlacht. Damit rückt Deutschlands Präsident vom bislang prägenden Bild der EU, die aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstanden ist und zur Versöhnung der Erzfeinde Frankreich und Deutschland geführt hat, als gesamteuropäische Metapher ab. Gauck, der nicht aus der DDR geflohen war, zeigt auf, dass Europa lange nur ein Konzept aus der Perspektive des Westens gewesen ist. Für die mittel- und osteuropäischen Staaten, die erst nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" ihre Freiheit erlangten, kann 1945 nicht der entscheidende positive Bezugspunkt zu Europa sein.

In seiner Rede setzt Gauck gleich mehrere Botschaften an das deutsche und europäische Publikum ab. Er beschwichtigt jene, die vor einer deutschen Vormachtstellung warnen - Ziel sei kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland - und kritisiert jene deutschen Politiker, die "wenig Empathie für die Situation der anderen aufgebracht haben" - ohne Griechenland explizit zu nennen. An die Briten appelliert Gauck, Teil der EU zu bleiben. Auch empfiehlt er Englisch als Verkehrssprache unter den Europäern, die eine gesamteuropäische Öffentlichkeit nach Vorbild des deutsch-französischen TV-Senders Arte schaffen sollen. Und Gauck wäre nicht Gauck, würde er nicht die Bürger in die Pflicht nehmen: "Sei nicht gleichgültig! Sei nicht bequem! Erkenne Deine Gestaltungskraft!", ruft er den 200 Gästen in Schloss Bellevue zu.

Minderheitenprogramm

Das größte Problem seiner Rede spricht Gauck selbst an: die fehlenden Umsetzungsmöglichkeiten. Denn "ohne die Zustimmung der Bürger könnte keine europäische Nation, kann kein europäischer Staat wachsen". Gauck hat eine Perspektive aufgezeigt, die von der politischen Elite akklamiert wird, aber innerhalb der Gesamtbevölkerung bloß ein Minderheitenprogramm ist.

Die Rede des deutschen Bundespräsidenten im Wortlaut