Reportage: Im Libanon leben viele Armenier, deren Vorfahren den Völkermord im Osmanischen Reich überlebt haben. Ihre Nachkommen sind ein bedeutender Teil des libanesischen Vielvölkerstaats.
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Bourj Hammoud. Als Kind, sagt Hagop Pakradounian, habe er seinen Vater oft mit Fragen nach seinem Großvater gelöchert. "Warum kommt er nicht sonntags vorbei und bringt Schokolade wie in anderen Familien? Wo ist er?" Er erhielt keine Antwort. Der Großvater wurde zuletzt gesehen, als Pakradounians Vater zwei Jahre alt war. Er blieb in der syrischen Wüste zurück, wie Hunderttausende.
Am 24. April 1915, vor hundert Jahren, begann in Istanbul und anderen Zentren des Osmanischen Reichs eine Verhaftungswelle gegen die armenische Minderheit, die zum ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts anwachsen sollte. Ganze Landstriche im Osten der heutigen Türkei, jahrhundertelang armenisch geprägt, wurden entvölkert, die Bewohner binnen Tagen in die syrische Wüste deportiert und unterwegs massakriert. Über eine Million Armenier kamen dabei um.
Hagop Pakradounian, 59, öffnet das Fenster seines Büros und zeigt nach Osten. Zwanzig Kilometer entfernt erhebt sich die Westflanke des Libanon-Gebirges, dahinter liegt Syrien. "Von dort sind sie gekommen", sagt er, und danach blickt er nach unten, auf die engen Straßen von Bourj Hammoud, am Ostufer des Flusses, dessen Name die Stadt auf der anderen Seite trägt: Beirut. Drei armenische Parteien sind im libanesischen Parlament vertreten. Sechs Abgeordnete stellen sie, einer von ihnen ist Pakradounian. "Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wenn es um die Anliegen der armenischen Minderheit geht, halten wir zusammen." Libanon hat den Völkermord offiziell anerkannt, nun soll das Datum als nationaler Gedenktag verankert werden. Mit guten Chancen, glaubt Pakradounian. Als von 1975 bis 1990 der libanesische Bürgerkrieg tobte, verhielt sich die armenische Bevölkerung weitestgehend neutral. "Wir wurden hier aufgenommen, als wir aus dem Tod kamen. Wir sind Christen, wir können vergeben und fern der Heimat ein neues Leben aufbauen. Aber vergessen? Niemals."
Der Kampf um Anerkennung des Genozids schweißt das armenische Volk im Exil bis heute zusammen. Zeugnisse davon sieht man an jeder zweiten Gasse in Bourj Hammoud: Straßengraffiti in Rot-Blau-Orange, den armenischen Farben, dazu Botschaften wie "1915 - Never Again", "Turkey is guilty of Genocide." oder "Same Criminals, Different Faces", dazu die Gesichter der damaligen osmanischen Führung und des heutigen türkischen Staatschefs Recep Erdogan.
Die Graffiti sind Spuren einer armenisch-libanesischen Jugendkultur, die das Trauma der Vernichtung bis heute lebendig hält. Khajag Geukjian redet vom armenischen Erbe, von 5000 Jahren Geschichte, von der Bedeutung der Identität. 100 Jahre im Exil, und trotzdem sind die Armenier nicht in der Assimilation aufgegangen, sagt der 22-jährige Student stolz. Wie die meisten seiner Altersgenossen ist er in eine armenische Schule gegangen, gehört der Armenisch-Apostolischen Kirche an, spricht im Alltag Armenisch. "Wir sind Armenier, aber genauso Libanesen. Wahrscheinlich die überzeugendsten Libanesen von allen, denn wir wissen, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren." Doch ob seine Zukunft im Libanon liegen wird, weiß er nicht. Der Nahe Osten ist für Christen eine Transitregion geworden, sagt er, der Libanon sei der letzte Ort, an dem sie noch in großer Zahl leben können. "Auch das gehört zu unserer Identität - wir leben mit einer Bedrohung. Die Türkei arbeitet noch immer daran, die Armenier aus der Region zu vertrieben", sagt Khajag. Wer es nicht glaube, soll nach Anjar fahren.
Die Straße nach Anjar führt zurück in die Gesichte der armenischen Vertreibung, über das Libanon-Gebirge nach Osten hinunter in die Bekaa-Ebene. Hier betraten die Überlebenden des Völkermordes erstmals den Boden des heutigen Libanon, als sie der syrischen Wüste entkamen. Heute ist die Bekaa-Ebene wieder Flüchtlingsland. Jenseits der östlichen Bergkette liegt Syrien, die Straße führt dort hinüber, nach 40 Kilometern endet sie in Damaskus. Seit dem Bürgerkrieg in Syrien überquerten hunderttausende die Grenze und landeten hier in der Hochebene, verteilt auf Zeltlager, die zwischen den Dörfern aufgestellt wurden. Dörfer wie Anjar.
Furcht vor weiterem Genozid
Auch Anjar entstand aus dem Nichts, sagt Yessayi Havatian, Händler für Landwirtschaftsprodukte. Anders als Bourj Hammoud wurde das Dorf wurde nicht von den Überlebenden der Deportationen gegründet, sondern von armenischen Widerstandskämpfern: 1915 haben sich rund 4000 Armenier auf den Berg Musa Dagh in der heutigen Südtürkei geflüchtet, geleitet von einem Offizier mit Kampferfahrung, und der Osmanischen Armee 45 Tage lang getrotzt, bis sie von der französischen Armee gerettet wurden.
Tereza Berberian ist mit Ehemann, Sohn und Schwiegertochter vor einem Jahr aus Aleppo über die Berge geflüchtet, die Stadt war zerstört, ihr Möbelgeschäft lag brach, und ihr Mann benötigte eine Krebsbehandlung. Hilfe fand sie im Libanon nicht, die Hilfswerke des Landes sowie der UNO waren überlastet und bezahlten nur die Behandlung lebensnotwendiger medizinischer Fälle. Eine Krebserkrankung gehört nicht dazu. Wenige Monate darauf starb Berberians Mann. Seither harren sie zu dritt aus, in einer karg eingerichteten Zweizimmerwohnung. Der Sohn arbeitet in Beirut auf dem Bau, vom Flüchtlingswerk der UNO erhalten sie Lebensmittelgutscheine im Wert von knapp 18 Euro pro Tag. Und warten auf eine Ausreisemöglichkeit, Kanada soll das Ziel sein. Ob sie je nach Aleppo zurückkönnen, glaubt Berberian nicht: "Die Türken haben alles zerstört." Die Türken?
Yessayi Havatian schaltet sich ein. Die Kämpfer des Islamischen Staates sollen von türkischem Boden aus armenische Dörfer nahe der syrisch-türkischen Grenze angegriffen und die Bewohner vertrieben haben, dazu hätten sie in Aleppo gezielt die armenischen Kirchen zerstört. "Sie benutzen die Islamisten, um zu Ende bringen, was sie 1915 begonnen haben", sagt Havatian.
Auf dem Weg zum Auto zeigt er auf die Berge am östlichen Dorfausgang von Anjar. An ihrem Fuß verläuft eine Stromleitung. Bis dorthin dürften sich die Bewohner des Dorfes bewegen, sagt Havatian, wer weitergehe, würde von syrischen Stellungen beschossen werden, die Grenze verläuft dem Bergkamm entlang. Armenier zu sein bedeute, Feinde zu haben, sagt er, solange der Anspruch nach Gerechtigkeit und Entschädigung nicht aufgegeben werde. "Aber das werden wir nicht. Wozu hätten unsere Vorfahren sonst auf dem Berg gekämpft?"