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Als ich 1958 als Sechsjähriger bei meiner ersten Auslandsreise in Deutschland meine 1945 aus dem Sudetenland vertriebenen Urgroßeltern besuchte, mussten meine Eltern noch jede Tafel Schokolade, die ich zu meinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, an der Grenze deklarieren. In ihrem Reisepass war noch der DM-Betrag eingetragen, den sie gewechselt hatten. Für meine Urgroßeltern blieb die Grenze zur alten Heimat verschlossen. Mein Großvater durfte noch in den frühen Fünfzigerjahren mit österreichischem Reisepass nicht zum Begräbnis seiner Mutter in die DDR einreisen.
Als im Juni 1979 zum erstenmal Wahlen zum Europaparlament stattfanden, erlebte ich das in Italien mit und bedauerte, nicht auch mitwählen zu können. Am 1. Jänner 1995 wurde ich in Spanien in einem Restaurant von französischen Freunden herzlich begrüßt: "Ihr gehört ja jetzt auch dazu, zur Europäischen Union". Ein halbes Jahr zuvor hatten sich die Österreicher trotz Greuelpropaganda von gewisser Seite - wir erinnern uns noch alle an die "Blutschokolade" und die "Schildlaus im Joghurt" - in überwältigender Weise für den EU-Beitritt entschieden.
Jetzt, nach einem Jahrhundert von törichten Nationalismen, zwei Weltkriegen und unzähligen Tragödien ist zusammengewachsen, was schon früher zusammengehört hat - wie es der große Europäer Willy Brandt gesagt hat, als 1989 die Berliner Mauer gefallen war. Und erstmals in seiner Geschichte wurde Europa friedlich geeint. Grenzen, die noch vor eineinhalb Jahrzehnten unüberwindlich schienen und durch Stacheldraht und Minenfelder "gesichert" waren, gibt es nicht mehr. Auch wenn noch so manches Problem zu überwinden ist, dieser 1. Mai 2004 wird als ein Freudentag in die Geschichte unseres Kontinents eingehen. "Alle Menschen werden Brüder", heißt es in der Europahymne. Zumindest für die Europäer ist das in diesen Tagen ein Stück wirklicher geworden.