Eine große Lücke, sagt Menschenrechtsexperte Manfred Nowak.| EU fördert laut Nowak Menschenrechte global, verletzt diese aber bei Grenzschutz.
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"Wiener Zeitung": Am Montag beginnt in Wien eine hochrangig besetzte Konferenz für Menschenrechte mit Vertretern der EU und der UNO. Aber stimmt das Selbstbild der EU? Ist sie in der Tat Antreiber in Menschenrechtsfragen?Manfred Nowak: Ja, da besteht für mich kein Zweifel. Auch in der Vergangenheit, also im Kalten Krieg, waren die westlichen Staaten diejenigen, die versucht haben, innerhalb der UNO einen effektiven Menschenrechtsschutz zu etablieren. Danach wurde vieles komplexer, so haben im menschenrechtlich wichtigsten Organ der UNO, dem 2006 gegründeten Menschenrechtsrat, die afrikanischen und asiatischen Staaten eine klare Mehrheit mit 26 von 47 Sitzen. Das war am Anfang durchaus eine schwierige Situation für die EU. Israel wurde zum einzigen Menschenrechtsproblem gestempelt, die Hälfte der Resolutionen betraf Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete.
Deswegen wurde ja auch die Sinnhaftigkeit des Menschenrechtsrates angezweifelt.
Mittlerweile hat eine neue Dynamik im Menschenrechtsrat eingesetzt. Das zeigt sich im Stimmverhalten vieler Länder, etwa nun in der Syrien-Krise - dass der Sicherheitsrat in dieser Frage versagt hat, steht auf einem anderen Blatt. Im Menschenrechtsrat haben fast alle Staaten für die Verurteilung und mehr Maßnahmen gegen Syrien gestimmt, in der Minderheit sind nur Russland, China und Kuba geblieben. Dies ist auch ein Erfolg der Europäischen Union, die diese Allianz zustande gebracht hat.
Das zeigt, dass die EU wieder eine ganz wesentliche Stellung innehat. Der österreichische Botschafter Christian Strohal hat als Vizepräsident des Menschenrechtsrates viele neue Initiativen gesetzt und einiges weitergebracht.
Was sind die Gründe für diese neue Dynamik?
Wir haben nun eine andere politische Konstellation. Das hängt mit dem Arabischen Frühling zusammen, viele Hardliner wie Ägypten oder Algerien sind nun doch plötzlich einem effektiven Menschenrechtsschutz zugänglicher, afrikanische und asiatische Staaten nehmen mittlerweile die Menschenrechte ernster. Eine positive Entwicklung brachte auch der Wechsel im Präsidentenamt der USA, von George W. Bush zu Barack Obama. Die USA sind jetzt wieder Mitglied im Menschenrechtsrat. Die Obama-Regierung hat eine viel deutlichere Menschenrechtsagenda als das Bush-Kabinett. In der ersten Zeit während der Bush-Regierung war die EU fast allein gelassen, um im Rat den westlichen Menschenrechtsstandard hoch zu halten. Das ist jetzt nicht mehr so.
Im Sicherheitsrat aber kann eine Vetomacht eine Resolution zu Fall bringen. So scheitern ja viele Maßnahmen gegen das Regime von Syriens Diktator Bashar al-Assad an Russland und China.
Russland verletzt aufgrund egoistischer militärischer und politischer Interessen seine "responsibility to protect", seine Schutzverantwortung. 2005 hat ja die UN-Generalversammlung diese Schutzverantwortung angenommen.
Die traditionelle Auffassung war, dass der Staat souverän ist, wenn er über sein Territorium und seine Menschen Macht ausübt. Heute wird der Staat erst dann als souverän angesehen, wenn er seine Menschen gegen die schwersten Verletzungen ihrer Rechte, beispielsweise Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schützt.
In Libyen etwa hat Muammar Gaddafi während des Aufstandes nicht eingelenkt und zeigte sich vollkommen unnachgiebig. Daraufhin hat die UNO die Schutzverantwortung übernommen und interveniert. Ein solches Vorgehen soll natürlich auch eine Signalwirkung auf andere Herrscher haben. Dass sich nun Assad genauso unnachgiebig zeigt wie Gaddafi - und das mit Rückendeckung der Russen -, ist für mich ein gefährlicher Rückschritt.
Ein weiterer Punkt in der Menschenrechtsdebatte ist ja die auch von Ihnen vertretene Forderung nach einem Weltgerichtshof für Menschenrechte. Was soll dieser bringen? Es gibt ja schon andere Gerichte wie etwa den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.
Ich bin zutiefst von der Idee eines Weltgerichtshofes für Menschenrechte überzeugt. Diese ist an dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte orientiert, soll aber mit weitergehenden Kompetenzen ausgestattet werden. Dazu gehört insbesondere die Verantwortung internationaler Organisationen, denn auch sie können Menschenrechte verletzen. Wenn etwa die UNO wie im Kosovo oder Ost-Timor Übergangsverwaltungen führt, dann sind UNO-Polizei oder UNO-Militär beteiligt. Wenn diese Menschenrechtsverletzungen begehen, dann können die Opfer die UNO nirgendwo anklagen.
Ein zweiter wichtiger Punkt sind internationale Konzerne. Viele transnationale Konzerne haben heute viel mehr Macht als kleine Staaten, sie üben diese Macht auch aus und verletzen Menschenrechte, etwa durch Zwangsarbeit, Kinderarbeit bis hin zu Morden durch ihre Sicherheitsorgane.
Sie werden dafür aber nicht zur Verantwortung gezogen, weil die Staaten entweder zu schwach sind oder mit den Konzernen gemeinsam handeln. Das zeigte sich etwa bei Shell und der früheren Militärdiktatur in Nigeria, wo man die Volksgruppe der Ogoni unterdrückt hat und der Bürgerrechtler und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa hingerichtet wurde. Wie kann ich Unternehmen zur Verantwortung ziehen? Bisher ist das eine große Lücke. Mit einem Weltgerichtshof für Menschenrechte würde das ermöglicht werden.
Zudem ist etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur für bürgerliche und politische Rechte zuständig. Heute sind wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ebenso wichtig.
Wie realistisch ist derzeit das Projekt eines Weltgerichtshofes für Menschenrechte?
Derzeit fehlt der politische Wille, erst ein paar Staaten befürworten diese Idee. Aber die EU könnte ein Vermittler sein und den Weltgerichtshof für Menschenrechte zusammen mit ausgewählten Staaten aus Afrika, Asien oder Lateinamerika als gemeinsame Initiative in den Menschenrechtsrat einbringen.
Wie ist aber die Lage innerhalb der EU selbst? Wie stark sind in der EU durch die Krise Menschenrechte gefährdet?
Die größte Herausforderung und das größte menschenrechtliche Problem in Europa ist derzeit der Umgang mit dem Anderssein - das betrifft das Verhalten gegenüber Migranten und Flüchtlingen, das betrifft den Umgang mit Rassismus und Xenophobie. Da hat die EU auch schon einiges geleistet, aber nun stockt das ein bisschen, weil alles dem Management der Wirtschaftskrise untergeordnet wird.
Sehen Sie an den EU-Außengrenzen die Menschenrechte gefährdet?
Ja, die Festung Europa ist ein großes menschenrechtliches Problem. Das heißt jetzt nicht, dass das Problem lösbar ist, indem man alle Grenzen abschafft, aber doch sollte man einen anderen Zugang zu diesen Migrations- und Fluchtproblemen finden. Dazu zählt etwa eine gemeinsame europäische Migrations- und Asylpolitik, die nicht von xenophoben Ängsten getragen wird. Stattdessen benötigen wir eine Politik, die strategisch ausgerichtet ist, die auch demografische Faktoren mit einbezieht. Europa ist ein alternder Kontinent, für den eine gewisse Migration gesund ist. Das müsste aber auf einer anderen Ebene gelöst werden, als dass sich immer nur die Innenminister mit ihren xenophoben Ängsten wechselseitig lizitieren. Vielmehr braucht es eine gemeinsame Politik, in der dann die EU Entscheidungen trifft und nicht auf die populistische nationalstaatliche Politik zu sehr Rücksicht nehmen muss.
Ein weiterer Punkt ist der Grenzschutz - da kommt es zu vielen Menschenrechtsverletzungen. Da hat erst vor kurzem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine ganz wichtige Entscheidung zu Italien getroffen, die allerdings die Regierungszeit von Silvio Berlusconi betraf. Italien wurde verurteilt, weil es schiffbrüchigen Flüchtlingen im Mittelmeer nicht nur nicht geholfen hat, sondern diese auch nach Libyen, wo Gaddafi herrschte, geschickt hat. Solche Vorfälle sind schwere Menschenrechtsverletzungen.
Wissen
Zur Person
Die Internationale Menschenrechtskonferenz "Empower Human Rights!" bietet Menschenrechtsexperten aus verschiedenen europäischen Organisationen die Möglichkeit, ihre Ideen mit Vertretern der UNO und der EU zu diskutieren. Hochrangige Sprecher wie die stellvertretende UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte Kyung-wha Kang, Vizekanzler und Außenminister Michael Spindelegger oder der EU-Sonderbeauftragte für Menschenrechte Stavros Lambrinidis sind geladen. Die Konferenz findet von 10. bis 12. September 2012 in Wien statt.
Infos unter: http://bim.lbg.ac.at/Manfred Nowak, geboren 1950, ist Universitätsprofessor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien. Darüber hinaus leitet er mehrere interdisziplinäre Forschungsprojekte am Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte in Wien, dessen Mitgründer er ist. Nowak berät weltweit Regierungen und internationale Organisationen in Menschenrechtsfragen und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Thema. Der Jurist war von 2004 bis 2010 UN-Sonderberichterstatter über Folter.